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Bischof Aichern (72) über Kriegs- und Nachkriegs- erlebnisse, "die einen plötzlich einholen, völlig unvorbereitet mit einer Präsenz vorhanden sind, als wären sie eben passiert".

Foto: APA/Diözese Linz
Es gibt Erlebnisse, die man sein ganzes Leben lang nicht mehr vergisst. Erlebnisse, die jederzeit abrufbar sind, einen plötzlich einholen. Meistens völlig unvorbereitet mit einer Präsenz vorhanden sind, als wären sie eben erst passiert. So oder in ähnlicher Form holt mich noch heute das Erlebte meiner Jugendtage im letzten Kriegsjahr 1945 ein. Auch nach 60 Jahren ist über das Bild der Toten und Verwundeten, der zerbombten Häuser, des blutroten Himmels über dem brennenden Wien und der nächtlichen Schreie tief verzweifelter Menschen noch kein "Gras gewachsen".

Die kleine Fleischhauerei meiner Eltern in der Reinlgasse im 14. Bezirk in Wien war für mich als damals 14-Jährigen fast wie ein Bollwerk gegen die dramatischen Kriegswirren. Die Schule konnte ich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr besuchen. Mein Gymnasium wurde wegen massiver Fliegerangriffe nach Hallstatt in Oberösterreich in das so genannte Hotel "Grüner Baum" verlegt. Doch meine Mutter ließ mich nicht mitgehen. Sie hat immer gesagt, auch wenn noch so eine große Gefahr in Wien herrscht: "Wir bleiben zusammen. Es war schon schlimm genug, dass der Vater in den Krieg ziehen musste, der Rest der Familie muss jetzt beisammen bleiben".

Wir blieben also alle in Wien und versuchten mit vereinten Kräften, unser Leben zwischen unserem Geschäft und dem dunklen, feuchten Luftschutzbunker zu meistern. Innerhalb der Fleischhauerei-Wände war vor allem meine Mutter bemüht, eine ansatzweise "heile Welt" zu bewahren. Irgendwie schafften wir es bis zum Jahr 1945, den elterlichen Betrieb aufrechtzuerhalten. Fast Übermenschliches hat dabei meine Mutter geleistet. Nicht nur, dass sie meiner Schwester und mir durch ihre fürsorgliche Art die Angst vor dem Bombenregen auf Wien weit gehend nahm, sondern sie organisierte alleine den Geschäftsalltag. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt längst als Soldat an die Front geholt worden.

Rückblickend ist es mir heute zwar ein Rätsel, aber irgendwie hat es meine Mutter jeden Tag aufs Neue geschafft, trotz großer Lebensmittelknappheit die Zutaten für unsere köstlichen Wurstsorten zusammenzutragen. Unsere Fleischerhauerei war in diesen Kriegstagen viel mehr als nur ein reiner Kaufmannsladen. Beim "Aichern" traf man sich in erster Linie auch, um sich gegenseitig Mut zuzusprechen, um Ängste und Sorgen auszutauschen. Ich erinnere mich noch heute sehr genau daran, wie gut das auch uns Kindern tat, zumindest für einen kurzen Moment ein Lächeln auf den vom Krieg gezeichneten Gesichtern unserer Nachbarn zu sehen.

Für meine damals fünfjährige Schwester und mich war es schwer zu begreifen, was eigentlich rund um uns passierte. Wir lebten mit einer ständigen Angst. Ganz besonders meine kleine Schwester lebte in ständiger Furcht vor dem, was rund um uns herum passierte. Sie hat bei jeder Kleinigkeit geschrien. Warum dieses Leid? Warum dieses Sterben? Warum liegt unsere schöne Gasse in Trümmern? Alles Fragen, auf die es für uns Kinder zu diesem Zeitpunkt keine Antworten gab. Nicht weil meine Mutter nicht wollte, sondern weil einfach keine Zeit für solche Gespräche war. Es galt, das "nackte Überleben" zu sichern. Und für uns war das Gefühl, die schützende Mutterhand ständig in greifbarer Nähe zu haben, in dieser schlimmen Zeit eigentlich auch "Antwort" genug.

Unsere Fleischhauerei und die angrenzende Wohnung war fast bis Kriegsenden von den Bomben weit gehend verschont geblieben. Das sollte sich in den Abendstunden des 4. April 1945 schlagartig ändern. Gegen 19 Uhr traf uns die Härte des Krieges mit voller Wucht.

Ohne vorherigen Fliegeralarm sausten die Bomben genau auf unser Haus nieder. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt mit unserer Verkäuferin und einer Verwandten im Geschäft. In dem Moment, als die Bomben einschlugen, war ich gerade mit einer Helferin unseres Geschäftes auf dem Weg über die Stiege in unseren Keller. Plötzlich habe ich so ein eigenartiges Rauschen gehört und instinktiv sofort gewusst: Jetzt muss ich um mein Leben laufen. Doch an ein Weglaufen war nicht mehr zu denken. Wir standen zitternd auf der Treppe, während vor uns der Keller völlig in sich zusammenbrach und hinter uns große Teile unseres Wohnhauses einstürzten. Es hat alles schrecklich gewankt, aber einzig allein die Treppe blieb stehen, obwohl alles andere völlig zerstört wurde.

Ich weiß noch ganz genau, wie alles rundherum vom Staub vernebelt war, ich keine Luft bekommen habe und nur die Schreie unser Verkäuferin "Maxl, jetzt ist unsere letzte Stunde" vernommen habe.

Auf dem Weg aus den Trümmern traf ich dann plötzlich auf meine Mutter und unsere Verwandte. Beide hatten überlebt, denn sie waren intuitiv aus dem Geschäft in jenen Teil des Hauses gelaufen, der nicht einstürzte. Überlebt haben wie durch ein Wunder auch alle anderen Bewohner unserer Hauses. Und zwar nur aus einem Grund: Alle Nachbarn befanden sich gegen sieben Uhr abends in ihren Küchen beim Abendessen, also genau in jenem Teil des Hauses, der über drei Stockwerke erhalten blieb. Und da war er wieder, dieser unbeschreibliche Zusammenhalt, der sich wie ein roter Faden durch meine Jugend 1945 zog: Wir hatten gemeinsam überlebt und ohne nur eine Minute zu zögern, begannen wir, gemeinsam aus den Trümmern unserer Vergangenheit eine neue Zukunft zu schaffen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15. 5. 2005)