Hans Rauscher hat Recht: "Vergessenwollen ist dumm und sinnlos", und wenn der Philosoph Burger für Vergessen plädiert, so ist in der Tat Widerspruch angesagt. Trotzdem bedarf der Umkehrschluss, Erinnerung sei die einzige Möglichkeit, mit dem NS-Trauma fertig zu werden, einer Korrektur.

Mit der Opposition von Erinnern und Vergessen tappt die derzeitige Diskussion in eine Falle, in der sie sich im Kreise dreht. Hier tut eine Differenzierung Not, die in der Philosophie schon von Henri Bergson gemacht wurde. Er unterscheidet zwischen souvenir und mémoire, zwischen Erinnerung und Gedächtnis. Erstere bezieht sich auf selbst erlebte Situationen und ist damit stark subjektiv gefärbt. Gedächtnis dagegen beinhaltet Bedeutungen, die nur durch begriffliche Verarbeitung gewonnen werden können.

Durch Erinnerung allein hat man noch nichts verstanden. Dazu braucht man objektive Begriffe. Ein einfaches Beispiel: Man kann sich an die Situation erinnern, in der man als Kind ein Gedicht lernen musste, ohne auch nur eine Zeile im Gedächtnis behalten zu haben. Umgekehrt haben wir viele Gedichte im Gedächtnis, ohne uns an die Situationen zu erinnern, in denen wir sie gelernt haben.

Diese Unterscheidung mag wie eine unwichtige sprachanalytische Spitzfindigkeit aussehen, ist aber moralisch von weit reichender Bedeutung. Denn nur die Transformation der Erinnerung in Gedächtnis versetzt uns in die Lage, aus dem Schrecklichen wirklich dauerhafte Lehren zu ziehen.

Wie anfällig eine so genannte Erinnerungskultur für unkontrollierbare emotionale Aufwallungen ist, dafür gibt es leider auch im Umgang mit dem Holocaust unerfreuliche Beispiele. Schon Kant hat davor gewarnt, Emotionen mit moralischen Prinzipien zu verwechseln. Manche Funktionäre der Opferverbände müssen sich daher fragen lassen, ob sie sich der Gefahren bewusst sind, die in einer rein emotionalen Vergegenwärtigung des Schreckens liegen. So ganz abwegig scheint mir die Befürchtung nicht, dass hier bei der Jugend der Keim für einen neuen Antisemitismus gelegt werden könnte.

Wichtiger als die fragwürdigen Versuche, Nachgeborene zu inszenierter Identifikation mit dem Leid der Opfer zu erziehen, das sich in seiner Unaussprechlichkeit jedem Nacherleben prinzipiell entzieht, erscheint mir die Aufgabe, auf allen Ebenen nach den Ursachen des Völkermords zu forschen und die Ergebnisse zum festen Bestandteil unseres historischen Wissens zu machen. In dieser Frage haben die Philosophen vielleicht doch noch einen Beitrag zum kulturellen Selbstverständnis zu leisten. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.05.2005)