Ostermann
"Chalo-Chalo", also in etwa "gemma, gemma", ruft der Fahrradrikscha-Fahrer in die Wand aus Leibern, Vespas und Waren, und wie durch ein Wunder tut sie sich auf. Lässt das klapprige Gefährt mit seiner schweren Last vorbei, öffnet sich. Einkäufer treten beiseite, ohne sich auch nur umzusehen, Händler heben gelassen ihre Verkaufspulte für den einen Moment, der notwendig ist, um den eingeklemmten Reifen freizugeben.

Atemberaubender noch als die handgeschöpften Papiere, die Glasarmringe, Seidenstoffe und Gewürze in den Basaren von Old Delhi sind die Menschenmassen und wie sie einander in den armbreiten Gassen ausweichen und umtanzen, neugierig beäugen, manchmal auch belauern. "Look, just look", meint dann doch "kauf", und ein "Nein" darf nicht gelten, solange der Blick noch nicht abgewandt ist. "Go with the flow", sind die Touristen in die eigenwilligen Verkehrsregeln der Hauptstadt eingeweiht worden. "Schwimm mit dem Strom" oder "immer in Bewegung bleiben" lautet die Formel für das Gewirr aus Bussen, Autos, Tuk Tuks und Ochsenkarren, das dem ungeübten Europäer den Schweiß auf die Stirn treibt.

Doch wirklich, folgt er dem Schritt des Vordermannes, ist die Straße sicher überquert, nur kein Zögern, auch nicht vor dem Geschäft, rein oder nicht, sonst laufen die Nachkommenden auf, ist der "Flow" gestört und es staut. Nur die heiligen Kühe dürfen stehen bleiben und glotzen, auch inmitten der 16-Millionen-Stadt, Privileg einer praktisch verpackten, lebensspenden Versorgungseinheit, aus der Milch und Dung kommen, Nahrung und Brennstoff. Geht es nach dem Willen der Regierung, sollen die Kühe aus dem Stadtbild verschwinden, das Ziel eines Kuh-freien Delhi mit Ende 2004 wurde aber bereits verfehlt. Besser gegriffen hat die Umstellung der öffentlichen Verkehrsmittel, die Busse fahren mit Gas, an der U-Bahn wird gebaut. Trotzdem hängt der Smog über der Stadt, die bescheidene Mittelschicht wächst, und die Banken geben neuerdings Kredit für private Pkws.

Für nur rund zehn Prozent der Bevölkerung werden in Indien Güter produziert, die über die Notwendigkeiten des täglichen Überlebens hinausgehen, nur dieser kleine Anteil an Konsumenten macht bei über einer Milliarde Menschen aber einen Markt, auf dem sich auch ausländische Investoren zunehmend gerne tummeln.

Gerade einmal drei Stunden seines Lebens verbrachte der Gastgeber einer illustren Gartenparty in einem von Delhis noblen Vororten im Basar, die Begeisterung der ausländischen Besucher ringt ihm ein müdes Lächeln ab. Nicht ganz unverständlich, schließlich fahren auch Wiener nur ganz selten mit dem Fiaker durch Schönbrunn. Der Besitzer diverser Restaurants in Delhi und London bevorzugt BMWs, die er, zu seinem großen Bedauern, allerdings nur in Deutschland so richtig ausfahren kann. In Indien herrschen 50 Kilometer pro Stunde Höchstgeschwindigkeit, auch auf der Autobahn.

Ist man erst auf dem Highway nach Rajasthan, versteht man schnell, warum: Nicht viel anders als in der Stadt tummelt sich auch über Land auf den Straßen alles, was Beine oder Räder hat. Die knapp 258 Kilometer von Delhi nach Jaipur werden so zur Tagesreise. Was den Rikscha-Fahrern ihr "Chalo-Chalo", ist bei den Lkws das "Horn Please", das auf jedem liebevoll bemalten Heck prangt. Denn Hupen gehört in Indien zum guten Ton. Meint es doch nichts anderes als ein rücksichtsvolles "Achtung, ich komme", überholt wird dann wahlweise links oder rechts.

Mit Einbruch der Dunkelheit wird das Signal zum Überholen gemeinhin durch kräftiges Betätigen der Lichthupe verstärkt - auch dies ein durchaus erwünschter Code, den die Höflichkeit im Dienste der Verkehrssicherheit gebietet: "Use dipper at night" heißt die entsprechende Aufschrift auf motorisierten Gefährten. - Was eine findige Werbeabteilung dazu veranlasste, eine Kondommarke "dipper" zu nennen und ihr so in ganz Indien millionenfach gratis fahrende Werbefläche zu verschaffen.

In der Region Jaipur angekommen, bietet sich ein weiteres spezielles Verkehrsmittel an: Auf Elefantenrücken werden die Touristen den steilen Weg zum Fort Amber hochgebracht. Die imposante Festungsanlage diente den Kachhawahas vom Ende des 11. Jahrhunderts bis 1717 als Hauptstadt, bevor sie diese nach Jaipur verlegten. Heute werden statt stolzer Maharanis verschwitzte Besucher über ein eigens errichtetes Einstiegstürmchen auf die Sänften verladen. Die Treppe hoch, bis der Höhenunterschied zum Elefantenrücken nivelliert ist, dann zwei Personen Platz genommen, schon macht der Elefant eine elegante 180-Grad-Drehung, damit zwei weitere Passa- giere barrierefrei zusteigen können.

Die zehn Minuten, in denen die Sitzenden in der Sänfte gefangen sind, werden vom Elefantentreiber geschäftstüchtig genutzt, um geschnitzte Elefantenpiekser und anderes Zierwerk an den Mann beziehungsweise die Frau zu bringen. Wegschauen gibt es da nicht. Und absteigen darf erst, wer sich ordnungsgemäß vom Fotografen hat ablichten lassen. Die Schnellentwicklungen werden nach Besichtigung des Palastes am Ausgang feilgeboten. Interessanter als diese Aufnahmen sind jene, die die euro- päischen Fortbesucher wohl nie zu Gesicht bekommen werden: Sei es vor der Privataudienzhalle mit Gitterwerkfenster, sei es vor dem dreistöckigen Tor mit floralen Intarsien oder auch im Aram Bagh, dem Lustgarten, immer wieder werden die ausländischen Gäste mit aufs Foto gebeten.

Es sind vor allem wohlhabende Familien aus Südindien, die wie die Europäer in Rajasthan die berühmten Wüstenfestungen besichtigen. Für sie geben die hellhäutigen, in der prallen Sonne unsinnig leicht gekleideten Geschöpfe ein mindestens ebenso exotisches Motiv ab, wie die bunten Saris gefragte Farbtupfer in hiesigen Alben sind. Die Demokratie der Kamera macht es also möglich, dass sich inländische und ausländische Touristen in Fort Amber zumindest in Sachen Filmeinsatz nichts schuldig bleiben.

Ebenfalls ein Ort inflationären Kameragebrauchs ist natürlich das Taj Mahal in Agra. Bereits vor sechs Uhr morgens reisen die ersten Besuchergruppen an, um noch vor der Öffnung der Tore in Poleposition zu gehen. Seit der berühmten Sehenswürdigkeit Mamorkrebs diagnostiziert wurde, dürfen die Massen die letzten Kilometer nur im Elektrobus zurücklegen, hunderte Industriebetriebe und Manufakturen im Umkreis wurden zum Schutz des Heiligtums geschlossen. Die allergrößte Mühe hatte man sich schon bei der Errichtung des Monuments gegeben: Spezialisten aus aller Welt waren von 1631 bis 1653 im Einsatz, um der Frau des Shah Jahan ein würdiges Denkmal zu setzen. Die verehrungswürdige Mumtaz Mahal hatte ihrem Gatten in 18 Ehejahren bereits 13 Kinder geschenkt, bei der Geburt des 14. ist sie verschieden. Nun streiten sich die Geister, ob der Mogul-Herrscher seiner Frau das Mausoleum aus übergroßer Trauer oder aber aus aufkeimenden schlechten Gewissen errichten ließ. Die perfekte Symmetrie der Gesamtanlage wird jedenfalls nur von einem einzigen Element gestört: Das Grabmal des Untröstlichen wurde nach seinem Tod gegen seinen Willen dem der Gattin zur Seite gestellt. (Der Standard/rondo/20/05/2005)