Washington/Rockville/Wien - Genforscher in den USA haben das Erbgut des Menschen zu 99 Prozent
entschlüsselt. Craig Venter, Präsident von Celera Genomics Corp., eines von ihm selbst zu diesem Zweck gegründeten
Privatunternehmens in Rockville (US-Bundesstaat Maryland), teilte am Donnerstag mit, dass sein Unternehmen die
chemischen Buchstaben im menschlichen Genom in seiner Abfolge identifiziert hat.
Von der Kenntnis des Erbguts mit seinen rund 100.000 Genen werden bahnbrechende Fortschritte in der Medizin erwartet.
Der Wiener Wissenschafter Erwin Heberle-Bors vom Institut für Mikrobiologie und Genetik der Universität Wien betonte am
Donnerstag, dass die Sequenzierung des menschlichen Genoms "nur der Anfang vom eigentlichen
Durchbruch, nämlich der funktionellen Aufschlüsselung (der Erbsubstanz des Menschen, Anm.)" sei.
Das menschliche Genom besteht aus rund drei Milliarden Basenpaaren, die auf dem doppelsträngigen Erbgut-Molekül
DNA (Desoxyribonukleinsäure) angeordnet sind. Die Abfolge der Basen Guanin (G), Cytosin (C), Adenin (A) und Thymin
(A) legt den Bauplan des Lebens fest.
HUGO Zweiter im Forschungswettlauf
Das internationale Konsortium HUGO hatte bereits vor zehn Jahren mit der Entschlüsselung des Genoms begonnen.
Dieses Human Genome Project kostete bisher umgerechnet rund 42 Mrd. Schilling. Es wollte noch im April einen
"Arbeitsentwurf" mit 90 Prozent des Erbmaterials vorstellen, wurde jetzt aber von Venter geschlagen.
Der US-Forscher hatte nach langen Vorbereitungsarbeiten vergangenes Jahr mit dem Plan Furore gemacht, schon in
nächster Zukunft das menschliche Genom vollständig sequenzieren zu wollen. Er hatte auch angekündigt, preiswerter zu
sein als das HUGO-Konsortium mit einem Netzwerk von Labors in 50 Ländern. In einer Zusammenarbeit zwischen
öffentlichen Stellen und Celera war erst am 19. Februar die Sequenzierung des Erbguts der Fruchtfliege "Drosophila
melanogaster", des "Haustiers" der Genetiker bekannt gegeben worden.
Öffentliche Datenbank oder private Patente?
Bei dem harten Konkurrenzkampf zwischen öffentlichen Stellen und Celera bei der Sequenzierung des menschlichen
Erbguts geht darum, ob die menschliche Erbsubstanz nach ihrer Entschlüsselung in öffentlich zugängliche Datenbanken
gespeichert wird oder in erster Linie der wirtschaftlichen Nutzung (Patente) eines Privatunternehmens (Celera) zur
Verfügung stehen wird.
Der ehemalige HUGO-Forscher Venter startete sein Unternehmen erst 1999. Anders als das Human Genome Project hat
Celera die chemischen Buchstaben allerdings noch nicht komplett geordnet. Dies macht nach Angaben von Fachleuten
aber noch einen großen Teil der Arbeit aus.
Diesen letzten Schritt will das Unternehmen nach den Worten von Venter in vier bis sechs Wochen bewältigt haben. Damit
gäbe es ein erster vollständiger Plan vom Erbgut des Menschen. Die HUGO-Wissenschafter erwarten, ihre komplette
Sequenzierung des menschlichen Genoms im Jahr 2001 vorlegen zu können. Aus dem Vergleich von DNA-Sequenzen
wollen Genforscher erkennen, welche Variationen zu Erbkrankheiten führen und andere schwere Leiden wie Krebs oder
Herzprobleme fördern.
Funktionen erst zu zehn Prozent bekannt
"Ein Durchbruch ja - aber auch der Anfang eines noch größeren, bevorstehenden Durchbruchs", so kommentierte der
Genetiker Erwin Heberle-Bors vom Institut für Mikrobiologie und Genetik der Universität Wien die gemeldete
Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes. Mit den Sequenzier-Daten hätte man zwar das Wissen über die genaue Zahl
und die Anordnung der Gene, kenne aber noch nicht deren Funktionen. Bisher wüssten die Wissenschafter nur zu rund zehn
Prozent, was die einzelnen Gene bewirkten.
Wie die Sache weitergeht, vor allem wie weit erkannte genetisch bedingte Krankheiten auch geheilt werden können, wird
laut Heberle-Bors auch von der ethischen Akzeptanz der Forschung abhängen. "Ich persönlich bin dagegen, dass man - zu
welchen Zwecken auch immer - gentechnisch veränderte Menschen produziert", betonte der Wissenschafter. Um
Gendefekte zu bekämpfen, gebe es andere Möglichkeiten, etwa den Einsatz von entsprechenden Medikamenten.
Celera-Aktie boomt an Wallstreet
Anders als das HUGO-Konsortium, das alle seine Funde regelmäßig im Internet veröffentlicht, stellt Celera nur einen Teil
seiner Erkenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung. Für seine viel wichtigsten Entdeckungen hat das Unternehmen
Patente beantragt.
Außerdem verkauft Celera spezifische Informationen über genetische Varianten, die eine Rolle bei der Entstehung
bestimmter Störungen und Krankheiten spielen, an fünf pharmazeutische Unternehmen. Die Pharmaindustrie hofft, in der
Zukunft "maßgeschneiderte Medikamente" mit mehr Heilwirkung und weniger Nebeneffekten für Patienten mit bestimmtem
genetischen Profil anbieten zu können.
Der Durchbruch von Celera Genomics wurde am Donnerstag vor Eröffnung der New Yorker Börse verkündet. Bereits am
Vortag war der Wert der Aktien des Unternehmens um 56 Prozent gestiegen. Seit 1999 hat das Unternehmen den
Aktienwert sogar verneunfacht. (APA/dpa)