Kings College Chapel

Der Standard
In der Stadt des fliegenden Geistes wurden Alice im Wunderland und der Herr der Ringe erfunden und Harry Potter auf Film gebannt.



Wenn der Frühnebel noch in den Straßen und Gassen hängt, dann braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie hier Harry Potter auf seinem Besen durch die Lüfte düst. Viele der Szenen der Harry-Potter-Filme wurden in Oxford gedreht, die nicht umsonst die Stadt des fliegenden Geistes genannt wird. Das Christ Church College bietet eine zauberhafte Kulisse. Mit seinen Zinnen und Türmchen sieht das Gebäudeensemble von außen wie ein Märchenschloss aus.

So drängen sich hier auch viele Schulkinder vor dem großen Tor, um Einlass zu einer Tour zu finden. Viele von ihnen erkennen das Stiegenhaus wieder, wo Mrs. McGonagall in Hogwarts, Harrys Schule, die Kinder begrüßt oder die Bibliothek, das Krankenhaus und den Speisesaal. Im Film ist der Speisesaal die große Halle von Hogwarts.

Abgeschottete Briten

Ein Mosaikfenster im Speisesaal zeigt Szenen aus "Alice im Wunderland", eine Figur, mit der die jüngeren Besucher deutlich weniger anfangen können als die älteren. Charles Dodgson war im 19. Jahrhundert Dozent für Mathematik am Christ Church College. Er hat sich die Geschichte für die jüngste Tochter des Dekans ausgedacht, Alice Liddell, und unter seinem Pseudonym Lewis Carroll veröffentlicht.

In der Ferienzeit öffnen die meisten Colleges ihre Tore. Christ Church ist eines der wenigen Colleges, das für Besucher auch während der Universitätstrimester offen steht - gegen Eintrittsgeld. Nur am Sonntag, wenn die Messe in der Kirche von Christ Church, die gleichzeitig die Kathedrale von Oxford ist, gelesen wird, ist das Gelände für alle zugänglich. Die meisten anderen der 39 Colleges schotten sich während des akademischen Jahres ab. Nicht nur gegenüber Besuchern, sondern auch gegenüber Angehörigen anderer Colleges. Es gibt nicht die Universität Oxford. Jedes der Colleges ist relativ autonom, was den Universitätsbetrieb in Oxford so besonders macht. Die Studenten und Professoren essen zusammen, im ersten Jahr leben auch alle Studenten in ihrem College.

Jedes der Colleges, von denen manche bereits im 12. Jahrhundert gegründet wurden, pflegt eigene Bräuche und häufig skurrile Traditionen, von denen sich einige nicht mit dem Bild einer Eliteuniversität in Einklang bringen lassen. So lassen alljährlich am 1. Mai die Studenten vom Magdalen College zuerst ihren Chorgesang vom Turm erklingen und springen dann von der Magdalen-Brücke in den Fluss Cherwell. Auch heuer verletzten sich dabei wieder dutzende bei diesem traditionellen Sprung in den Mai, weil der Fluss so wenig Wasser hatte. Die britische Presse spricht schon von der "Brücke der Idioten".

Zenons Schildkröten

Nur alle hundert Jahre, zuletzt am Allerseelentag 2000, spielt sich im All Souls College folgendes Spektakel ab: Es versammeln sich die Studenten auf dem Dach ihres Colleges zu einer Prozession, schreiten mit Fackeln und Stöcken hinter einer Ente her und singen den "Mallard Song". Das ist ein Lied zum Ruhme jener Ente, die man bei der Gründung des Colleges im 15. Jahrhundert fand.

Nicht weniger exzentrisch ist das alljährlich im Sommertrimester stattfindende Schildkrötenrennen zwischen Balliol College und Corpus Christi College. Da nimmt sich das traditionelle Ruder-Rennen zwischen den rivalisierenden britischen Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge, das Ende April oder Anfang Mai stattfindet und für das die Studenten das ganze Jahr über trainieren, vergleichsweise normal aus.

Einer der Orte, an denen sich alle Studenten treffen, sind die Pubs. "Eagle and Child" mit seiner düster anmutenden holzgetäfelten Einrichtung sowie das lichtere "Lamb and Flags" nehmen für sich in Anspruch, die traditionsreichsten zu sein. Sie liegen sich in der St. Giles Road fast gegenüber. Im "Eagle and Child" hat J.R.R. Tolkien, der in Oxford Literatur lehrte, angeblich zum ersten Mal öffentlich aus "Herr der Ringe" gelesen. Das Buch hat nicht zuletzt durch den Film jenen Kultstatus, den das Pub schon seit Jahrzehnten hat.

Durchs Kaninchenloch

Man fühlt sich häufig wie im Film, wenn man durch die Straßen Oxfords schlendert, vorbei an den mittelalterlichen Gebäuden. Wer etwa der New College Lane folgt, die neben der Seufzerbrücke gegenüber der weltbekannten Bodleian Bibliothek zwischen dem Hertford College verschwindet, taucht in eine andere Zeit ein. Das Pflaster stammt aus anderen Jahrhunderten, links und rechts von dem sich schlängelnden Pfad türmen sich meterhohe Mauern. Ein handgeschriebenes Schild weist den Weg zu einem Pub, dem nur Eingeweihte folgen, denn es führt nur ein schmaler Gang dorthin, durch den man sich fast zwängen muss. Hinter den Mauern sind Gärten, von denen die meisten selbst für alteingesessene Einwohner von Oxford ein Geheimnis bleiben. Einige von ihnen sind nur den Studenten des jeweiligen Colleges zugänglich, andere nur dem akademischen Personal und der Garten des Deans eines Colleges ist nur für ihn und seine Familie reserviert. Wer dorthin eingeladen wird, dem wird große Ehre zuteil, von der die Bewohner hinter vorgehaltener Hand berichten.

Allen zugänglich ist jedoch der riesige University Park, wo sich die Studenten zum Cricket- und Fußballspielen treffen, und wo die Decken im Gras ausgebreitet werden, selbst wenn sich keine Sonne zeigt. Offen ist auch der Zugang zu Christ Church Meadow, der sattgrünen Wiese, die bis zum Horizont reicht, hinter dem College. Hier sind auch Kaninchenlöcher zu sehen. Durch eines fiel Alice damals und folgte einem weißen Kaninchen auf dem Weg ins Wunderland. Als wundersame, eigene Welt präsentiert sich Oxford auch heute noch.