Peter Warta

Der Leitende Sekretär des ÖGB, Richard Leutner, hat angekündigt, die Erhöhung der Altersgrenze für Frühpensionisten ab Oktober dieses Jahres beim Verfassungsgerichtshof wegen Verletzung des so genannten Vertrauensgrundsatzes anzufechten. Das rückt ein Grundrecht (nicht zum ersten Mal) in den Blickpunkt des Interesses, das es streng genommen gar nicht gibt: In der österreichischen Verfassung wird man das Recht auf Schutz des Vertrauens in wohlerworbene Rechte vergeblich suchen. Es ist ein Werk der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes.

Der fundamentale Wert, dem der VfGH mit dieser Judikatur Rechnung trägt, ist der der Rechtssicherheit, der am radikalsten bei der Rechtskraft richterlicher und behördlicher Entscheidungen verwirklicht ist: Rechtskräftige Entscheidungen gelten auch dann, wenn sie - etwa nach logischen Kriterien - inhaltlich rechtswidrig sein sollten. Sie können, von wenigen, eng gefassten Ausnahmen abgesehen, nicht mehr angefochten werden.

Rechtskraft und Rechtmäßigkeit stehen also zueinander in einem Konflikt, den die Rechtskraft in der Regel gewinnt. Beim Vertrauensgrundsatz geht es um den Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Politik, zwischen dem Verfassungsgerichtshof als dem Hüter bestehender Rechte und dem Gesetzgeber als Instrument der politischen Rechtsveränderung.

Diese konservative Funktion des Vertrauensgrundsatzes geht aber auch nach Auffassung des VfGH natürlich nicht so weit, der Politik jeden Gestaltungsspielraum zu verweigern. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist da die Zeit. Das Vertrauen des Beschwerdeführers in seine wohlerworbenen Rechte muss in langen Jahren gewachsen und der gesetzliche Eingriff in diese Rechte muss plötzlich und von rigorosem Ausmaß sein.

Welcher Schaden?

Es kann aber auch nicht nur darum gehen, dem Beschwerdeführer eine psychische Enttäuschung zu ersparen; irgendwer ist immer enttäuscht, wenn sich etwas ändert.

Worauf es ankommt, wird besonders in jenen Fällen deutlich, in denen der VfGH rückwirkende Gesetze aufhebt, wenn dadurch ein Schaden für Personen entsteht, die im Vertrauen auf das geltende Recht Vermögensdispositionen getroffen haben. Jemand, der beispielsweise investiert, um bestehende Steuervorteile zu nutzen, braucht sich nicht gefallen zu lassen, dass diese Begünstigungen später rückwirkend wieder aufgehoben werden. Angewandt auf Einsparungsmaßnahmen im Pensionsbereich bedeutet das, dass bestehende Pensionsleistungen nicht ohne weiteres gekürzt werden dürfen, weil ja die Pensionisten im Vertrauen auf ihre Bezugsrechte ihren Lebensabend so und nicht anders geplant haben - etwa durch Abschluss eines Vertrags mit einem Seniorenheim. Dieses Vertrauen schützt der VfGH ohne Rücksicht auf die objektive Bedürftigkeit der Betroffenen. Das führte etwa 1986 zu den berühmt-berüchtigten "Politikerpensions-Erkenntnissen", mit denen der gleichzeitige und ungeschmälerte Bezug mehrerer Pensionen von beträchtlicher Höhe durch Mitglieder des Grazer Stadtsenats i. R. vor der Abschaffung durch eine Novelle des Statuts der Landeshauptstadt Graz geschützt wurde.

Pikant daran ist, dass sich der VfGH, der sich beim Vertrauensschutz formal auf den Gleichheitsgrundsatz des Bundesverfassungsgesetzes beruft, damals überhaupt nicht mit der Frage beschäftigte, ob es sich bei diesen ungeschmälerten Mehrfachpensionen nicht vielleicht um eine Verletzung des in diesem Gleichheitsgrundsatz ausdrücklich normierten Verbots von Vorrechten einer Klasse (in diesem Fall: der politischen) handelt.

Politische Unsitte

Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, dass die Erhöhung des Mindestalters für den Anspruch auf eine vorzeitige Pension automatisch einen Bruch des geschützten Vertrauens bedeutet, nur weil sie schon im Oktober und nicht erst in zwei Jahren eintreten soll. Denn es ist zwar für viele schön, früher als später in Pension zu gehen. Aber was hätten die Betroffenen anders gemacht, wenn sie zwei oder mehr Jahre früher gewusst hätten, dass die Altersgrenze erhöht wird?

Der Vertrauensschutz macht Sinn, wenn man die Wahl zwischen mehreren Optionen hat und sich im Vertrauen auf Vorteile, die die geltende Rechtslage gewährt, für eine dieser Optionen entscheidet. Typisch dafür ist der Beamte, der im Vertrauen auf die Beamtenpension diese Berufslaufbahn trotz niedrigerer Anfangsbezüge gewählt hat. Bei jenen Pensionsversicherten, die eine Frühpension anstreben, sind solche Mehrfachoptionen aber schwer denkbar. Hier liegt kein Problem des juristischen Vertrauensschutzes, sondern eines der sozialen Gerechtigkeit vor. Der Gewerkschaftsbund und nicht der Verfassungsgerichtshof muss etwa abwägen, ob er sich mehr mit jenen solidarisieren soll, die früher Pensionen bekommen wollen, oder denen, die sie dann zahlen müssen.

In Österreichs politischer Klasse ist die Unsitte eingerissen, die Verantwortung für solche Entscheidungen möglichst abzuwälzen. Der Verfassungsgerichtshof ist dann nicht selten das Opfer.

Peter Warta ist Rechtsanwalt in Wien.