Kommt nicht alle Tage vor, aber jetzt ist es so weit: Neidisch könnte man werden. Nein, neidisch ist man längst schon: auf die Leute vor der Staffelei nebenan. Wie sie die Marderhaarpinselspitzen über die Leinwand trippeln lassen! Wie sie stehen und prüfen und schauen und dann beliebig die Lichtpunkte setzen.
Kunstsinnige Augen
Malerreisen nach Latium, jenem uralten Kulturboden rund um Rom, haben Tradition. Auch heute noch, zu einer Zeit, in der sich die Nachfahren der reisenden Landschaftsmaler, nämlich die Hobbyfotografen, in Latium längst die Haare raufen - und sich ein, zwei Autostrada-Stunden weiter nördlich wünschen, zurück in die bewährte Toskana. Größer könnte der Kontrast nicht ausfallen: dort oben die toskanische Komposition aus weichen Hügeln und Wellen. Wie von selbst komponieren sie sich vor der Linse zum gefälligen Bild. Um wie viel sperriger dagegen Latium: Dunkle Schluchten, Wasserkaskaden, starke Kontraste - ungeformt und wild ist das vergessene Land um Rom. Marderhaarpinsel-Schwinger haben es in Latium besser als die Fotografen.
Die Veränderung unserer Sehgewohnheiten ist ein Grund dafür, dass sich die attraktive Provinz nun als touristische Terra incognita präsentiert.
Genau jenes Konzept des Pittoresken, das Latium seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Ideallandschaft auswies, fand - und findet - sich hier nämlich so, wie es sich die Maler und Reiseschriftsteller der Goethe-Epoche erträumten: Bauwerke tauchten als melancholische Ruinen in der Landschaft auf oder aber als romantische Gehöfte. Die von unregelmäßigen Licht-und Schatteneffekten rhythmisierte, von bizarren Felsen und wechselnder Vegetation geprägte Ideallandschaft, hinter der abweisende Apennin-Gipfel aufragen, entsprach genau jener Folie, auf die sich Hirten, Schäfer und ähnliche ästhetische Zitate der Romantik einkopieren ließen.
Orte wie Olevano Romano, ein Bergdorf im Osten von Rom, entwickelten sich in der Folge zu regelrechten Künstlerkolonien, in denen sich deutsche, englische, französische Maler die Klinke respektive Farbpalette in die Hand gaben. Der bildnerische Output an Sabiner-Berge-Sujets und latinischen Tempeln verteilte sich gerecht über halb Europa und inspirierte andere zum Nachreisen. Aber auch Chateaubriand und Berlioz, die Schriftsteller Ludwig Tieck, Lord Byron und zuletzt Marie-Luise Kaschnitz oder Peter Huchel ließen sich von den Reizen der Region inspirieren. Vom cinephilen Fundus gar nicht erst zu reden: Das liebliche Castel San Pietro Romano mag dafür Pate stehen, gab das im neorealistischen "Pane, amore e gelosia" verewigte Dörfchen doch die Geburtsstunde von Gina Lollobrigidas Karriere ab. Gefallen am zeitlos-archaischen Charme der lokalen Mauern und Steine fanden später Pier Paolo Pasolini und Federico Fellini - um nur zwei bekannte Regisseure zu nennen.
Dass der von Künstlern intendierte latinische Dornröschenschlaf aber auch mit einer mittlerweile hundertjährigen touristischen Verschnaufpause einherging, hat freilich noch andere Gründe. Unmittelbar im Norden ist der Tourismusmagnet Toskana als mediterranes Landleben-Label abonniert und besetzt dabei auch die Nische Fressen plus Chianti. Dazu kommt die mit Kunstschätzen gefüllte eigentliche Herzkammer der Region, das Kulturmonster Rom, das mit seinen Museen und Reichtümern potenzielle Latium-Besucher fast zur Gänze absorbiert. Selbst das faszinierende Ostia Antica kann sich, wenige Kilometer vom Seebad-Trubel, mitunter als stille Ruinenstadt sehen lassen. Verwaist liegen die 2000 Jahre lang rundgeschliffenen Pflastersteine der Hauptstraße Decumanus Maximus zur Zeitreise bereit.
Aus dem Fokus gerückt
Die relative Einsamkeit des alten Ostia ist kein Einzelschicksal - eher schon logische Konsequenz aus jener Überfülle an interessanten Orten, die Latium heute den touristischen Overkill ersparen. In erster Linie bleibt die Landschaft des Vergil und Horaz, die Heimat der Zauber-Tussi Circe aber ein mythischer Raum - den vielen Baedeker-Sternen zum Trotz. Belege dafür finden sich zuhauf: Nur einige, die sich von der Spanischen Treppe nach Palestrina, der größten Orakelstätte der römischen Antike, verirren. Ähnliches gilt für die hinter gelb leuchtenden Ginsterbüschen versteckten Etruskergräber um Norchia oder für die Nekropolen von Cerveteri, 44 Kilometer nordwestlich von Rom. Holprige Straßen führen mitunter zu diesen Orten. Die dichte Vegetation vor den mit eingemeißelter Scheinarchitektur versehenen Steilwänden lässt auch den Mythos der etruskischen Kultur nachhallen. Als das große Rom noch ein kleines Kaff war, dominierten Latiums Etruskerstädte Tarquinia, Veji oder Vulci noch den gesamten Mittelmeerraum.