Wien - Nadezda ist ein elfjähriges Kind, dem Grauen entronnen. Sie taumelt verwirrt und verängstigt auf den heruntergekommenen Kinderspielplatz am Rand einer Belgrader Vorstadtsiedlung. Nadezda sabbert, das Gesicht entgleist zuckend, der "Bauch bebt", ihr "Anblick löst Ekel, Abscheu und Wut aus". Das wünscht sich Biljana Srbljanovic in der Regieanweisung zu Beginn ihrer mörderischen Familiengeschichten. Belgrad. Von den anderen Kindern entdeckt und gejagt, wird Nadezda zur winselnden Hündin, die ihren Peinigern die Hand leckt, um zu überleben. In Serbien herrscht nach wie vor Krieg. Krieg in den Familien. Der verblüffende Coup der Belgrader Autorin, die während des Nato-Bombardements auf Serbien durch ihre mutigen Stellungnahmen international bekannt wurde, liegt darin, dass alle Figuren des Stückes Kinder sind. Das heißt in der Praxis: Erwachsene spielen Kinder, die Erwachsene nachspielen. Denn mit dem Belgrader Kindertotentanz, der jetzt von Stephanie Mohr als "frontal"-Projekt am Volkstheater inszeniert wird, verhandelt das Stück gnadenlos die Lage: In psychisch verwahrlosten, wirtschaftlich zerrütteten, von einem Terrorregime um alle Hoffnung betrogenen Familien herrscht ein brutaler Überlebenskampf - ein grausiges Panorama von Klein-Tyrannei, Verrat, Opportunismus und Gewalt. Hundertprozentig Anna Franziska Srna spielt Nadezda und damit die bisher außergewöhnlichste Rolle ihrer jungen Karriere. Sie war schon Goethes Gretchen, Lessings Emilia Galotti und Grillparzers Libussa, aber ein verstörter Trümmerkindzombie war sie noch nie. Srna hat dafür Verhaltensstudien betrieben: "Das Faszinierende an Kids ist, dass sie alles, was sie tun, hundertprozentig machen. Das zwingt einen, alles zu geben. Daraus ergibt sich die Spielweise für dieses Stück, die sehr körperlich sein muss, sehr emotionell." Die Protagonistin Srna pflegt zwar mit dem Volkstheater schon ein längeres Verhältnis, aber erstaunlicherweise nicht als festes Ensemblemitglied. Das liegt daran, dass sich Anna Franziska Srna seit ihren Stadttheater-Anfängen in Salzburg, Ulm und Dortmund (1992-96) den Luxus einer Existenz als freie Schauspielerin leistet, die sich die Projekte aussucht. So verschwindet sie aus der ersten Ensemble-Reihe am Volkstheater (in Die Unbekannte aus der Seine etwa oder zuletzt in Jonkes Insektarium ) immer wieder und taucht in scheinbaren Nebenprojekten wieder auf - viel gelobt etwa im Studio des Stadttheaters Klagenfurt in Dea Lohers Notzucht-Drama Tätowierung . Verbündet hat sie sich mit der Regisseurin Stephanie Mohr. Seit dem Kultstück Messer in Hennen 1998 am Volkstheater-Plafond sind sie unzertrennlich. "Ich habe unter ihrer Regie den Mut", erklärt Srna, "über Grenzen zu gehen." Von Lothar Lohs