Die Mode von Hussein Chalayan ist von aerodynamischen Formen beeinflusst.

Foto: Chris Moore

"Ich will gerne mit dir gehen", sprach Rapunzel zum Königssohn, "aber ich weiß nicht, wie ich herabkommen kann." Der Plan mit der Seidenleiter fliegt auf, Rapunzel wird in die Wüstenei verbannt, der Prinz vom Turm hinab in die Rosen gestoßen. Der Modedesigner Hussein Chalayan hat darum einen alternativen Befreiungsplan entwickelt und Rapunzel ein Kleid entworfen, das sich mit Heliumballons vertäuen lässt - auf dass sie schwebend ihrem Gefängnis entrinne.

Eigentlich fasziniere ihn alles, was fliege, sagte Chalayan bei der Eröffnung seiner ersten Einzelausstellung im Groninger Museum, die nun neben einzelnen Kollektionen auch begleitende Videos und Installationen aus zehn Jahren zur Übersicht bringt. Bereits in seiner ersten offiziellen Kollektion brach sich 1994 diese Faszination für das Fliegende Bahn: Chalayan vernähte einen papierähnlichen Stoff zu faltbaren "Luftpostkleidern", sie waren mit weiß-rot-blau gestreiften Bordüren besetzt und mit Bindfäden versehen, mit deren Hilfe sie sich auf Briefformat zusammenschnüren ließen.

Geschichten zu seinen Entwürfen

Immer gibt es Geschichten, die Chalayan bei seinen Entwürfen leiten, sie verdichten sich zu Konzepten und schließlich zu Kleidungsstücken, die für den Alltagsgebrauch zunächst ungeeignet sind - Chalayan nennt sie "Monumentalstücke", zu denen sich die eigentlichen Kollektionen verhalten wie abgeleitete "Disziplinen". Am Ende aber steht immer das tragbare Kleid, für das Chalayan elementare Funktionen - wie die Fluchthilfe für Rapunzel - dekliniert.

Nicht immer hat sich seine Flugbegeisterung in so nostalgischen Bildern wie dem Heißluftballon und dem Luftpostbrief niedergeschlagen, auch Jumbojets prägen Chalayans Ästhetik. Ihm gefielen aerodynamische Formen, sagt er, und steckt seine Models in Fiberglas-Kleider, die aussehen wie Flugzeug-Torsi - wie diese mit beweglichen Platten ausgestattet, die sich aufstellen lassen wie die Landeklappen am Flugzeugflügel (während der Schau im Jahr 2000 demonstrierte ein Junge mit Fernbedienung, wie es funktionierte).

Fernweh und Heimweh

Vielleicht schwingt Fernweh mit, oder auch Heimweh, vielleicht ist das eine vom anderen nicht zu trennen. 1970 als Türke im zypriotischen Nikosia geboren, erlebte er die Teilung von Stadt und Land, als Zwölfjähriger ging er nach der Trennung der Eltern mit dem Vater nach London. Er vermisste die Mutter, fühlte sich fremd in England, in der neuen Schule wie in einer Kaserne. Bei seinen Kleidentwürfen gehe es immer irgendwie darum, Zufluchtsorte zu schaffen, sagt Chalayan, für alle möglichen Orte und Umstände.

Mittlerweile fliegt der Designer, der seine eigenen Kollektionen über Entwürfe für Traditionshäuser wie TSE oder Asprey mitfinanziert, viel hin und her. Zwischen London und Tokio, wo er im vergangenen Jahr seinen Flagship-Store eröffnet hat, vor allem aber zwischen London und Istanbul (in diesem Jahr wird er bei der Kunstbiennale in Venedig offiziell die Türkei vertreten) - wie die Frau in seiner Videoinstallation "Place to Passage" (2003), die in einer düsenbetriebenen Einsitzer-Flugkapsel sitzt, von einer Londoner Tiefgarage aus aufbricht, in ihrem monadischen Vehikel unwirtliche Landschaften durchquert und schließlich in Istanbul landet. Ihr Flug ist dabei so asketisch wie jener des letzten überlebenden Discovery-Astronauten in Stanley Kubricks "2001", der nach der Abnabelung vom Mutterschiff seine finale Zeitreise durchs All angetreten hat.

Oft wirken Chalayans eingekapselte Körper...

... in ihrer Konzentriertheit isoliert, seine Kleider wie Trutz- und Schutzburgen autarker Systeme, neben Rapunzel haben ihn auch das cartesianische Subjekt oder die Arche Noah zu Kollektionen inspiriert; "Anthropologie der Einsamkeit" heißt seine Kollektion für den kommenden Winter, sie wartet mit hochgeschlossenen Mänteln auf. Doch bei aller Geschlossenheit entfalten seine Kleider Spielräume nach innen, werfen unter strengen Silhouetten weiche Rüschen und Falten. Auch den Tschador, den Chalayan 1998 von knöchellang bis bauchnabelkurz variiert, will er in diesem Sinne verstanden wissen: als schützendes, stofflich gestecktes Territorium, das Privatsphäre und ein Stück Heimat gewährt.

Intimität und Identität finden so unter - oft vielschichtiger - Verschalung statt, in einem Innenfutter etwa, in das Chalayan, als Speicherplatz für Erinnerungsstücke eine Vielzahl an Taschen einnäht. Im Video "Temporal Meditations", das er 2003 eine Herrenkollektion begleiten ließ (deren Stoffe mit Schlüsselstationen der zypriotischen Kulturgeschichte bedruckt sind), erzählt er die Geschichte eines Mannes, der am Flughafen von Nikosia in eine DNA-Kontrolle gerät. Das Testergebnis legt frei, was er im Inneren seiner Jacke in einer eigens hierfür eingenähten Halterung zu schmuggeln plante: eine kleine, charkolithische Tonfigur, wie sie auf Zypern mehrfach bei Ausgrabungen gefunden wurden. Das eigene Erbgut wird so mit dem Kulturgut des Herkunftslandes zur Deckung gebracht, die Identität als Schmuggelware im Innenfutter verwahrt.

Speicher individueller Erinnerungen

Das vielschichtige Kleidungsstück ist zum Speicher von individuellen Erinnerungen wie kulturellen Prägungen erklärt, aus denen sich Persönlichkeit formiert - Chalayan hat das Kleid mit einem Taxi verglichen, in dem sich ein emigrierter Fahrer mit Relikten der Zugehörigkeit umgibt. Eine schützende Kapsel, die Stauraum für lebenswichtige Dinge bietet, mehr braucht nicht, wer aufgebrochen ist. (Mirja Rosenau/Der Standard/rondo/03/06/2005)