Zum Stallwieserhof hoch über dem Martelltal kommt man nicht so ohne Weiteres. Es braucht Abenteurerblut in den Adern und Schwindelfreiheit, um über das ausgesetzte schmale Sträßchen von Gand, dem Hauptort des Martelltales über Thal und Ennethal zum Stallwieserhof hinaufzufahren, dem 1935 Meter hoch gelegenen schönsten Bergbauernhof Südtirols, wie Kenner des Landes sagen.

Bis vor wenigen Jahren war der Stallwieser neben dem Finailhof im Schnalstal der höchstgelegene Kornhof Europas. Heute bauen die Stallwiesbauern immerhin noch Hafer als Grünfutter für die Rinder an, die in dieser Höhe noch gehalten werden. Damit ist der Stallwieser einer der wenigen Bergbauern im Martelltal, die hier oben am Rande der Gletscher überhaupt noch in der alten Art wirtschaften. Die Lage des Hofes mit der unvergleichlichen Aussicht auf die schimmernden Eismassen des Zufallferners im Stilfserjoch-Nationalpark, die heute noch funktionsfähige Mühle aus dem 17. Jahrhundert und nicht zuletzt die Möglichkeit, von hier aus Bergwanderungen in den Nationalpark zu unternehmen, lassen im Sommer immer mehr Fahrzeuge zum Hof heraufkommen.

Gletscherplantagen

Unten im Tal selbst und bei den Höfen, die wie Glucken in die Hänge geschmiegt erscheinen, gibt es kaum noch Viehwirtschaft. Die Marteller Bauern kamen vor einigen Jahrzehnten auf die Idee, ihre bisher als Viehweiden genutzten landwirtschaftlichen Flächen in Erdbeerplantagen umzuwandeln. Zwar gibt es inzwischen auch zahlreiche andere Sonderkulturen hier im Tal, doch die Erdbeerfelder sind die spektakulärsten. Wenn anderswo längst alle Beeren geerntet sind, reifen hier am Rande des Gletschereises köstliche Früchte, die vor allem weiter unten in Italien reißenden Absatz finden.

In Kastelbell im Vinschgau zweigt das Tal ab und bietet alsbald eine besondere Kostbarkeit in Form der St.-Stephanus-Kapelle, die hoch über dem Tal der Ruine der Burg Obermontani vorgesetzt auf einem Bergvorsprung zu schweben scheint. Sie ist in ihrem Inneren mit kostbaren Fresken aus dem 12. und 13. Jahrhundert ausgemalt. In den Ruinen der durch ein Erdbeben zerstörten Bibliothek der Burg fand im 19. Jahrhundert der Tiroler Benediktinermönch Beda Weber eine Handschrift des Nibelungenliedes, die sich heute im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin befindet.

Dank der Tatsache, dass es in diesem fast versteckt liegenden Hochgebirgstal noch wenig Tourismus gibt, kennt man in Martell noch keine Seilbahnen für mühelose Aufstiege. Auch zu der schon von weit unten im Tal sichtbaren Zufallhütte kommen wir nur zu Fuß. Der Weg zieht sich lange bergan, doch die Mühe lohnt sich. Die 2264 Meter hoch gelegene Hütte ist heute ein idealer Stützpunkt für großartige Bergwanderungen, deren schönste wohl der Übergang über das Madritschjoch nach Sulden ist.

Bärige Landschaft

Über die weiten Schöntaufböden, auf denen sich bis in den Mai die Skiläufer getummelt haben, geht es vom Joch abwärts, den Blick immer wieder auf das großartige Dreigestirn von Ortler, Cebrù und Cevedale gerichtet. Mitten in den Schöntaufböden machen wir Halt bei der Madritschhütte. Vor allem bei Architekten gilt diese Hütte, die leider keine Nächtigungsmöglichkeit bietet, als ein besonderes Schmuckstück unter den Berghütten der Alpen. Sie ist angenehmerweise weit genug entfernt von den oft unappetitlichen Schnellabfütterungsanlagen, als die sich manche Bergrestaurants oft präsentieren. Zwischen blühenden Alpenrosenbüschen bewegen sich zottelige, schwarze Gestalten. Das sind doch keine normalen Rinder? Tatsächlich sind es echte tibetanische Yaks, die Südtirols bekannter Bergsteiger und Expeditionsreisender Reinhold Messner sich vor Jahren aus dem Himalaya hat kommen lassen, und die er im Sommer auf den Schöntaufböden weiden lässt.

Als wir später mit der Seilbahn von der Schaubachütte hinunter auf Sulden zugleiten, erkennen wir in der Tiefe das Dorf, deutlich getrennt in Ober- und Unterdorf mit den beiden dicht beieinander stehenden Kirchen im Unterdorf. Mit einer Höhenlage von fast 2000 Metern ist Sulden ein Hochgebirgsdorf par excellence. So wie das Dorf in seiner imposanten Gletscherumrahmung liegt, wird noch etwas von jener wilden Urlandschaft deutlich, die noch im 19. Jahrhundert dazu führte, von Sulden als dem Tiroler Sibirien zu sprechen, in dem die Kinder mit den Bären aus einer Schüssel speisten und auf Wölfen ritten, so, wie es heute noch auf die Fassade des Hotels Post aufgemalt ist. Doch als in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts die Schaubachhütte eingeweiht wurde, kam der Pfarrer von Sulden auf dem Maultier herauf. Als er nach der Zeremonie aus der Hütte trat, hatte ein Bär das Tier gerissen.

Trotz seiner majestätischen Bergumrahmung durch Ortler, Cebrù und Cevedale ist Sulden kein Ferienort nur für Hochgebirgstouren. Eine Woche reicht nicht aus, um all die Touren zu machen, für die man nicht der Hilfe eines Bergführers bedarf. Um einen guten Eindruck davon zu bekommen, wie viele Touren eigentlich noch möglich wären, fährt man am besten mit der Seilbahn zur "Kanzel" hinauf. Hier oben steht man wenigstens in einer Vorausschau erst einmal dem gewaltigen Ortlermassiv Aug in Aug gegenüber. (Der Standard, Printausgebe 4./5.6.2005)