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Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät? Dem Kanzler, der Sondersteuer auf "Alkopops" einführte, ist die Zeit davon gelaufen.

Foto: REUTERS/Arnd Wiegmann
Ein Rückblick ohne Schadenfreude, weil die Zukunft nicht euphorisch stimmt.


Als sich die Fernsehanstalten am Abend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen aus der Rede von SPD-Chef Müntefering ausklinkten und so das Entscheidende verpassten, da hat das rot-grüne Projekt wohl seinen symptomatischen Abgang bekommen. Selbst die letzte Patrone, die überraschende Neuwahl, schlug nicht live in unsere Wohnzimmer ein. Sie blieb minutenlang unbeachtet im Videotext stecken.

Von diesem Abend sind bei mir und vielen aus meiner Generation der jungen "neuen Mitte" widersprüchliche Gefühle geblieben: Wut und Enttäuschung über das Ende von Rot-Grün sowie Freude und Erleichterung über das Ende von Rot-Grün. Es ist nicht schade um diese Regierung. Ein greiser Verkehrsminister, der glaubt, Straßen seien der Weg in die Zukunft, ein Superminister, bei dem nur die Flops super sind, ein Finanzminister, der sich bei jeder Bilanz verrechnet, eine Entwicklungshilfeministerin, die ideologisch nie über die Siebzigerjahre hinauskommen wird, eine Verbraucherschutzministerin, die von Staats wegen dicke Kinder verschlanken will - die Liste dieses Gruselkabinetts ließe sich fortsetzen.

"Ich will hier raus!"

Darüber steht ein Chef, der sich wenig Mühe macht zu verbergen, dass er immer seltener Lust hat zu diesem Job. Gerhard Schröder, so die Legende, hat einst vor dem Kanzleramt gestanden und gerufen: "Ich will hier rein!" Niemand würde sich wundern, wenn er heute von innen am Zaun rütteln und rufen würde: "Ich will hier aus!"

Schadenfreude ist dennoch fehl am Platz. Denn das Personal der Gegenseite macht nicht gerade euphorisch. Nehmen wir Angela Merkel einmal aus, der es gelungen ist, von "Kohls Mädchen" zu einer Frau mit Kanzlerinnenformat zu werden, dann bleibt ein Schattenkabinett, das ähnlich gruselig ist wie die derzeitige Besetzung. Der stammelnde Bayer mit seiner Entourage aus rhetorischen Amokläufern Marke Glos und Söder, denen keine Diffamierung des politischen Gegners zu schmutzig ist. Dahinter eine Riege von politischen Verlierern, die die Ohnmacht der SPD unverdient in Ministerpräsidentenämter gespült hat, in denen sie nun wie Schuljungen herumfeixen.

Das Ganze abgesichert von einer FDP, die sich im Spagat zwischen Möllemann'schem Populismus und Westerwelle'scher Inhaltsleere verturnt hat und darauf hofft, dass ihr irgendjemand wieder auf die Beine hilft. So sehr sich die rot-grüne Regierung ihre Abwahl verdient hat, so wenig verdient es die schwarz-gelbe Opposition zu regieren.

CDU/CSU haben in den vergangenen Monaten aus Angst, etwas falsch zu machen, lieber gar nichts gemacht. Die Bundesregierung hat viel gemacht, aber wenig richtig. Es wird deshalb wenig bleiben von der Ära Schröder. Deutschland fühlt sich, im Vergleich zur Agonie der letzten Kohl-Jahre, ein wenig jünger an und, trotz Schily, auch ein bisschen liberaler. Aber ist es das wirklich?

Die "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", die Sozialforscher jährlich messen, ist seit 2002 gewachsen, nicht gesunken. Die Toleranz gegenüber Juden, Schwarzen, Homosexuellen, Obdachlosen hat abgenommen. Es gibt weniger Arbeiterkinder an unseren Universitäten, mehr Arme und mehr Arbeitslose - trotz eines Heers von Gleichstellungsbeauftragten, das Rot-Grün in Lohn und Brot gebracht hat.

Großmannssucht

Ausgerechnet eine Mitte-links-Koalition hat international deutsche Großmannssucht vorangetrieben. Mit Vehemenz wurden beim Nato-Krieg gegen Jugoslawien und beim pseudopazifistischen Widerstand gegen die US-Invasion im Irak deutsche Interessen vertreten und mit geradezu abstoßend moralisierend mit angeblichen "Lehren aus Auschwitz" verbrämt.

Symptomatisch für den Politikstil dieser Regierung ist die Reaktion auf "Alkopops". Aufgeschreckt vom Medienhype um jugendliche Schnapsleichen sorgte die Regierung weder für eine konsequente Durchsetzung der bestehenden Gesetze, nach denen der Verkauf von Limonade-Spirituosen-Mischungen an Jugendliche ohnehin illegal ist, noch verbot sie die Vermengung von Limonade und Wodka einfach. Stattdessen erhoben die Berliner Fiskal-Pädagogen eine Sondersteuer auf Alkopops - wenn unsere Kinder sich schon betrinken, dann sollen sie wenigstens dafür zahlen, und zwar an den Staat.

Man wundert sich, dass diese Regierung noch keine Steuer auf kriminelle Delikte eingeführt hat, nach dem Motto: "Wer für einen Mord zahlen muss, überlegt sich dreimal, ob er es sich leisten kann, Oma zu erwürgen." Dass es zu Ende geht mit Rot-Grün, ist traurig, weil in Deutschland gescheitert ist, was in England funktioniert: New Labour. Eine sozialdemokratische Partei, die es in die bürgerliche Mitte geschafft hat, die rechnen kann und knochenhart ist, wenn es sein muss, die sich trotzdem eine linksliberale Haltung bewahrt hat, die sie von den spießigen Konservativen mit ihren Aktenkoffern unterscheidet.

Als 1998 im Berliner Velodrom mit Lightshow und Rockmusik der SPD-Wahlkampf zu Ende ging, ein glasklarer, professioneller angelsächsischer Wahlkampf, da war ich nicht der Einzige, der dachte: "Dieses Land bewegt sich doch." Ich habe diese Regierung zweimal gewählt, ebenso wie der Kollege von der Zeit, der vergangene Woche über das Projekt Rot-Grün schrieb: "Es hat doch noch gar nicht richtig angefangen, deshalb ist es wohl vorbei."

Vermutlich stimmt das. Diejenigen, die "nicht alles anders, aber vieles besser" machen wollten, haben die meiste Zeit gewartet. Aber auf was? Es ist, als würde ein nervöser Mann den ganzen Abend lang neben seiner Traumfrau an der Bar hocken, fassungslos, dass sie sich tatsächlich zu ihm gesetzt hat. Nur ein paar Worte und Gesten braucht es noch. Aber er druckst rum, verschüttet Wein, schaut dauernd auf die Uhr. Als er wieder aufsieht, entschlossen, endlich zu tun, was zu tun ist, da ist die Traumfrau gegangen - Hand in Hand mit dem Streber von der Schülerunion. (DER STANDARD, Printausgabe, 06.06.2005)