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Foto: apa
Vent - Es ist ein Bild von archaischer Kraft, wenn um halb sieben Uhr in der Früh die erste Gruppe von rund 200 Schafen blökend und dicht gedrängt über ein Schneefeld das Niederjoch an der Grenze von Österreich zu Italien in 3019 Meter Höhe erreicht. Drei Stunden zuvor waren die Tiere begleitet von sechs Treibern und einigen Hunden 1300 Meter tiefer in Vernagt aufgebrochen. In der Morgensonne rasten die Tiere vor der Similaunhütte, während sich die Treiber drinnen stärken.

Ehe die nächste, 500 Schafe starke Gruppe eintrifft, ziehen sie weiter über den flach abfallenden Similaungletscher. Ihr Ziel ist eine der Weideflächen im lang gestreckten Niedertal, das bis Vent reicht. Drei Monate bleiben die Schafe dort auf der Sommerweide, am zweiten Septemberwochenende geht es wieder zurück.

Schaftrieb seit dem Mittelalter

Einen Schaftrieb in dieser Form gibt es zumindest seit dem Mittelalter, erklärt der Gletscherforscher Gernot Patzelt. Verträge zwischen den Bauern aus Schnals und Vent wurden bereits im 14. Jahrhundert abgeschlossen. Die Südtiroler Bauern besitzen im Niedertal 2174 Hektar Grund, im benachbarten Rofental sind es 745. Spuren einer Weidewirtschaft nomadisierender Viehhalter reichen 6000 Jahre zurück, weiß Patzelt, belegt durch Pollenanalysen, Holzkohlereste und Funde von Silexplättchen. Der nahe der Similaunhütte gefundene "Ötzi" gehört vermutlich zu ihnen.

Insgesamt kommen seit vielen Jahren konstant rund 5000 Schafe auf drei benachbarten Übergängen nach Tirol. Am Niederjoch sind es an diesem Tag bis Mittag an die 2000, verteilt auf fünf Gruppen. Zuletzt schwächere und ganz junge Lämmer. Fünf der allerjüngsten, gerade zwei Tage alt und noch mit der Nabelschnur am Bauch, erreichen die Similaunhütte samt ihren Müttern mit der Materialseilbahn.

Schnalser Erklärung So groß unter den Treibern die Freude über das strahlende Wetter auch ist, drei Transparente an der Similaunhütte drücken ihre Sorgen aus. Eine "Schnalser Erklärung" macht die Runde, in der die "Alpinteressentschaft Niedertal" und die Agrargemeinschaft Rofenberg gegen den geplanten riesigen Speichersee im Rofental protestieren. Die Bedrohung gehe nicht nur vom Speichersee aus, erklärt Stefan Götsch, Obmann der AI Niedertal. Er nennt unter anderem jahrelange Bauzeit, die Errichtung von Baustraßen, Ableitungsstollen und Wehrbauten. Durch die Ableitung der Bäche fürchtet Götsch nicht nur um den Verlust saftiger Gräser durch trockenere Böden. Die Bäche sind auch eine Abgrenzung der einzelnen Weideflächen, erklärt Götsch. Fehlen sie oder sind sie nur noch Rinnsale und für die Schafe kein Hindernis, sei nicht nur ein Durcheinander zu befürchten, sondern auch, dass sich viele Tiere verlaufen.

Was Götsch besonders ärgert, ist die Informationspolitik der Tiwag. Seit einem Dreivierteljahr liegt deren "Optionenbericht" auf den Tisch - mit den Südtiroler Schafbauern, immerhin die größten Grundbesitzer im Einzugsbereich des Stausees Rofental, habe bisher niemand auch nur ein Wort geredet. (Hannes Schlosser, DER STANDARD – Printausgabe, 14.06.2005)