Das Unbehagen am Kapitalismus wird größer. Die Zeit ist reif für eine neue Linke, die das Potenzial an Kreativität von hippen Kulturlinken aufgreifen müsste, ohne das Streben nach mehr Gleichheit aus den Augen zu verlieren.

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Das Unbehagen am Kapitalismus zieht Kreise. Von Pop bis Film, von Wir sind Helden bis "Die fetten Jahre sind vorbei" – Gesten des Dagegenseins, eine neue Kultur des Protestes. Spätestens in diesem Frühjahr ist die Kapitalismuskritik auch in der Mitte angekommen. Erst Franz Münteferings Angriff auf die "Ökonomisierung aller Lebensbereiche", dann das französische "Non" zur EU- Verfassung und nun der regelrechte Hype um die neue deutsche "Linkspartei" mit Oskar Lafontaine und Gregor Gysi als Cheftrommler – all das lässt sich als das Symptom eines Mangels lesen.

Es gibt in der Bevölkerung weit verbreitete Sentiments, die in der Politik-Politik, also dem, was bei Wahlen zur Debatte steht, nicht repräsentiert sind. Das ist derart unübersehbar, dass jetzt schon die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung konstatieren muss: "Die Zeit ist reif für neue politische Ideen. Gerade im Moment der größten Ausdehnung und Wirksamkeit der neoliberalen Ideologie mehren sich die Zeichen, dass es den Leuten allmählich damit reicht."

Das hat mit sozialer Bedrängnis zu tun, aber nicht nur. Gewiss, dass sich Spitzenmanager stetige Einkommenszuwächse genehmigen und Massenentlassungen ankündigen, obwohl die Ertragslage golden ist, verletzt elementare Gerechtigkeitsnormen; ebenso wie der Umstand, dass Arbeitslose schikaniert werden, obwohl es für sie keine Jobs gibt, und andererseits die Kapitalertragssteuern immer weiter sinken. Aber was für schlechte Stimmung sorgt, ist die Kultur der Alternativlosigkeit und der Umstand, dass das Ökonomische über die Ufer dessen tritt, was allgemein und traditionell als "der Markt" akzeptiert ist.

Dagegen gibt es nicht nur Aversion – sondern auch eine Fülle von Verweigerungs- und Ausbruchsstrategien. Man muss nur gelegentlich mit jungen Menschen sprechen, dann begegnet man überall Leuten, die recht zielstrebig, aber gleichzeitig auch locker – und das heißt: nie konsequent – versuchen, nicht mitzutun. "Das trifft genau das, wie ich lebe", sagt etwa eine junge Frau, die ihren Lebensunterhalt mit Jobben in einem neoliberalen Wirtschaftsblatt bestreitet, ihr "Sinnvakuum" aber damit füllt, dass sie in einem freien Radio über Sozialbewegungen berichtet.

Eine 22-Jährige, die studiert, nebenbei beim Arbeitsamt ein Mädchenprojekt betreut und, wenn dann noch Zeit bleibt, gratis für eine Sozialinitiative Asylbewerbern aus Afrika hilft, sagt, für sie komme "nur ein Beruf infrage, in dem ich mich für meine Ideale engagieren kann". Ein erfüllender Beruf "mit begrenztem Einkommen ist mir lieber als ein gut dotierter", bekundet sie. Wer Tiefeninterviews nachliest, die etwa Sozialforscher machen, oder nur kurz aufmerksam im Internet surft, wird eine Unzahl von Menschen finden, die – wie die 15-jährige Annika – äußern, sie wollten "sinnvoll leben" und nicht nur das tun, "was einem selbst nutzt".

Da tickt der Metropolen^twen, der auf schräge Sounds steht, auf der Höhe der Diskurse ist und avancierte Filme guckt, nicht sehr viel anders als die H-&-M-Verkäuferin, die sich unwohl fühlt, weil sie sich als Repräsentationsfigur der Markenpersönlichkeit ihres Unternehmens durch ihren Arbeitsalltag strampelt. Wenn man von der "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" spricht, dann ist das also nur die halbe Wahrheit. Eine solche Behauptung muss die ungeheure Kreativität und auch Resistenz ausblenden, die sich an allen Ecken zeigt.

Diese jungen Leute, die "ihr Ding" machen wollen, wehren sich gegen die innere Landnahme des postfordistischen, digitalisierten Kapitalismus, doch sie sind gleichzeitig seine Kinder. Die Auflösung der starren Erwerbsbiografien, das tendenzielle Ende der Regelarbeit in Büro und Fabrik, die Erosion der starren sozialen Milieus hat ihnen den Boden bereitet. Sie sind die Produkte einer Wirtschaftsweise, in der erst jetzt "alles Ständische und Stehende verdampft" (Karl Marx, "Kommunistisches Manifest"), die jedermann anherrscht, seine "Kreativität" und "Persönlichkeit" zu entwickeln und dann im besten Fall unbezahlte Praktikastellen zur Verfügung hat.

Sie sind das Potenzial einer neuen Linken, aber nicht von "Linksparteien", die am liebsten zum fordistischen Arrangement zurückkehren würde. Eine Retrolinke, die sich mit der Verteidigung von Partikularinteressen der alten Kernmilieus begnügt – "die Interessen der Arbeitnehmer und Rentner" (Oskar Lafontaine) –, wird keinen großen Magnetismus haben. Die hipperen linken Milieus sind die, die man als die "Kulturlinken" bezeichnen könnte. Sie legen viel Wert auf eine Kultur der Differenz. Dabei gerät ihnen die Gleichheit und soziale Gerechtigkeit schon mal aus den Augen.

Die traditionelle, gewerkschaftliche Linke wiederum sieht die chronische Verletzung von Gerechtigkeitsnormen und kann nicht verstehen, dass viele Menschen die Auflösung der starren Gehäuse des fordistischen Arrangements auch als Befreiung erleben. Die nächste Großidee müsste das zusammendenken: das Potenzial an Kreativität, an Vielfalt, auch an fröhlicher Dissidenz, das unsere Gesellschaften prägt – ohne den "Polarstern" (Norberto Bobbio) der Linken, das Streben nach mehr Gleichheit, aus den Blick zu verlieren.

an müsste mit den richtigen Bildern, mit einer glaubwürdigen Rhetorik beginnen. Alles wird schlechter, wir alle sind angepasste Marionetten? Das ist doch ein bisschen zu schwarz, um wahr zu sein. Eine linke Politik, von Männern in grauen Anzügen im Funktionärsjargon vertreten? Da muss man schon viel Bereitschaft mitbringen, sich deprimieren zu lassen. Die Vielfalt an Resistenz muss auch, gewissermaßen als Bild, repräsentiert werden. Wenn das einmal klar ist, dann ist es vielleicht auch gar nicht mehr so schwer, ein paar Ideen zu skizzieren.

Man könnte hier an die Konzepte denken, die etwa Wolfgang Engler in seinem Buch "Bürger, ohne Arbeit" entwirft, oder Richard Layard in "Die glückliche Gesellschaft". Im Word-Rap: ein Bürgergeld, das nicht mehr als menschenfreundlicherer Ersatz für die Sozialhilfe gedacht ist, sondern als Existenzsicherung für die vielen, die tätig sind, deren Leben aber prekär ist; ein Umbau der Sozialsysteme, der den veränderten Realitäten Rechnung trägt; mehr Chancen für alle als Generationenaufgabe – Aufwärtsmobilität, die Vermittlung von Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben für alle beginnt heute bei den Dreijährigen und resultiert erst in drei Jahrzehnten in einer egalitäreren Gesellschaft.

Vorbilder gibt's: Die klassenlosesten Gesellschaften der Welt sind die skandinavischen, wo die Steuern hoch sind, die öffentlichen Schulen ausgezeichnet arbeiten und die Kultur durch gegenseitigen Respekt gekennzeichnet ist. Mehr Varianten für ein sinnvolles Leben von so vielen wie möglich, in einer Gesellschaft, die nicht in Gewinner und Verlierer zerfällt, deren Mitglieder sich vielmehr auf Augenhöhe begegnen: Daraus muss doch eine Idee montierbar sein, für die man sich wieder begeistern kann. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.06.2005)