"Nebel über dem Ärmelkanal - Der Kontinent isoliert": Halb scherzhaft, halb im Ernst wird die berühmte Schlagzeile einer Londoner Tageszeitung immer dann zitiert, wenn es um das Verhältnis der Briten zu Europa geht. Derzeit verhält es sich freilich umgekehrt. Im Streit um das künftige EU-Budget steht Großbritannien innerhalb der Union isoliert da. Mit seiner Weigerung, auf den seinerzeit von Premierministerin Margaret Thatcher erstrittenen "Britenrabatt" zu verzichten, solange die EU ihre Agrarsubventionen nicht weit stärker als bisher reduziert, hat sich Premier Tony Blair ins europäische Abseits manövriert.

Dem britischen Selbstbewusstsein wird das eher nützen als schaden. Denn London sieht sich nicht nur als Bannerträger all jener, die keinen europäischen "Superstaat" wollen. Es sieht in der gegenwärtigen Krise um die EU-Verfassung auch die historische Chance, eine Bresche für ein Europa nach seinen Vorstellungen zu schlagen: ein Europa, das nicht viel mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft.

Deshalb gab es in Großbritannien nur mühsam unterdrückten Jubel über das Nein der Franzosen und der Niederländer zum Verfassungsvertrag. Man sieht sich in seiner tiefen Skepsis gegenüber einer politischen Union bestätigt. Dass die meisten Briten ein völlig anderes Verständnis von Europa haben als viele Festlandeuropäer, wird jeder bestätigen, der schon einmal auf der Insel war. Als Zentrum eines einstigen Weltreiches ist ihnen der Gedanke zutiefst zuwider, Souveränität an ein fernes Brüssel abgeben zu müssen, das noch dazu von verschwenderischen Bürokraten beherrscht werde. "Britains never shall be slaves", heißt es in der inoffiziellen Hymne "Rule, Britannia".

Dieses stolze Selbstverständnis einer unabhängigen Nation bekam zuletzt übrigens Blair selbst zu spüren: Seine Rolle als "Bushs Pudel" im Irakkrieg hätte ihn trotz verbreiteter Zufriedenheit mit der Wirtschaftslage beinahe die Wiederwahl gekostet. Mit den Briten an Bord werde es mit Europa nichts werden, meinte einst Charles de Gaulle. Vergeblich versuchte er, die Aufnahme des Vereinigten Königreiches in die damalige Europäische Gemeinschaft zu verhindern. Tatsächlich legte und legt sich London immer dann quer, wenn es um die Beschneidung nationaler Souveränitätsrechte in Bereichen ging und geht, die für eine Vertiefung der europäischen Integration als entscheidend erachtet werden.

Das betrifft nicht nur die Sicherheitspolitik, wo die Briten mit ihrem Sonderverhältnis zu den USA kompromisslos auf die Nato setzen und einer eigenständigen europäischen Verteidigungsstruktur zutiefst misstrauisch gegenüberstehen. Es betrifft auch eine einheitliche Sozialgesetzgebung, die ja durchaus im Interesse eines solidarischen "Europas der Bürger" wäre.

Umgekehrt argumentiert London gerade im Budgetstreit mit europäischer Solidarität, wenn es sich weigert, ohne weitere Kürzung der Agrarsubventionen auf seinen Rabatt zu verzichten: Trotz dieses Rabatts nämlich sei Großbritannien Nettozahler und habe in den letzten 20 Jahren unterm Strich mehr als zweimal so viel wie Frankreich oder Italien ins EU-Budget gezahlt; ohne Rabatt würde es mehr als das Zehnfache gewesen sein.

Dennoch bleibt es Tatsache, dass London dem so genannten Agrarkompromiss zugestimmt hat, der bis 2013 läuft und eine stetige Verringerung der Subventionen vorsieht. Jetzt ist dies den Briten plötzlich zu wenig. Und das provoziert die Frage: Warum verlassen sie eigentlich nicht den Klub (wofür vermutlich ohnedies eine Mehrheit stimmen würde), wenn sie nicht den vollen Mitgliedsbeitrag zahlen wollen? Die simple Antwort: Weil die Chance, die Klubregeln in ihrem Sinn zu ändern, noch nie so groß war wie jetzt.

Als Chance sollten den Budgetstreit indes auch jene sehen, die Europa im Sinne seiner Bürger voranbringen wollen. Denn gleichgültig, ob die Briten nun Europäer sind oder es jemals werden: In der jetzigen Krise der EU darf es keine Tabus geben. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.6.2005)