Wenn Erwachsene über Kinder reden, die nicht ihre eigenen sind, wird oft mit großer Überzeugung gehöriger Unsinn verzapft. Mischen sich zur vermeintlichen Sorge ums Kindeswohl auch noch politische Interessen, wird der Unsinn schnell zum Wahnsinn. Jüngstes Beispiel: die traurige Polit-Soap-Opera um den kleinen Elián González.

Armer Elián. Alle lieben ihn. Alle wollen sein Bestes. Alle wissen, was er braucht. Zu seinem Unglück gehen die Meinungen darüber scharf auseinander: Freiheit oder Vater. Amerikanischer Traum oder Sozialismus. Mickey Mouse oder Cuba Libre.

Die Clintons und die Justizministerin möchten ihn zurückschicken, die Präsidentschaftskandidaten und Miamis Bürgermeister würden ihn gern behalten, der Máximo Líder will ihn wieder haben. Vier lange Monate wird schon gestritten. Jetzt besteht Hoffnung, dass das Kind bald wieder sein darf, wo es hingehört: zu Hause.

Politik der Gefühle

Was Elián bis dahin mitgemacht haben wird, ist unfassbar: Er sah seine Mutter ertrinken, als das Boot, mit dem sie aus Kuba flüchteten, kenterte. Zwei Tage lang trieb er auf einem Reifenschlauch über den Atlantik, bevor er vor der Küste Floridas entdeckt wurde. Er war gerettet, doch der Albtraum hatte erst begonnen.

Der Sechsjährige, der da aus dem Wasser gefischt wurde, erschien vielen wie ein Geschenk des Himmels. Zunächst der exilkubanischen Gemeinde in Miami, wo Elián von Verwandten seines Vaters aufgenommen wurde. Vierzig Jahre Frust über Fidel Castro wurden prompt in Liebe für den kleinen Flüchtling kanalisiert. Seine Rettung aus dem Ozean wurde zur Rettung vor dem Kommunismus uminterpretiert.

Wo so viel Gefühl frei wird, darf die Politik nicht schlafen. Der Bürgermeister von Miami und der Präsidentschaftskandidat George W. Bush schlugen sich auf die Seite der wild-entschlossenen Elián-Fans und forderten dessen Einbürgerung. Auch Bushs Widersacher, Vizepräsident und Paradevater Al Gore, ergriff die Chance auf Anbiederung an die kubanisch-amerikanische Wählerschaft und sprach sich für Eliáns Verbleib in Amerika aus.

Auf der anderen Seite kommt auch Fidel Castro auf seine Kosten: Schon lange haben Demonstrationen gegen die Gringos nicht mehr so viel Spaß gemacht und so viele Menschen angezogen.

Wie es dem Hauptdarsteller dieses Dramas geht, ist indes nicht einmal ein Randthema. Er sei "happy", versichern die Verwandten. Die Fotos, die um die Welt gehen, zeigen: Elián fröhlich beim Besuch von Disney-Land, mit Baseball-Schläger, in coolen Klamotten. Der Kleine wolle nicht nach Kuba, triumphiert der Onkel.

Ist das möglich? Ja und nein. Elián ist nach Ansicht von Psychologen seelisch völlig paralysiert und schwer verwirrt. Was ihm seit seiner Ankunft in den USA wiederfahren ist, hat einen Namen: Kindesmissbrauch.

Seltsame Väter

Die Amerikanische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie kommentierte den Fall so: Für ein Kind, das einen Elternteil verloren hat, seien vertraute Menschen und Strukturen sowie eine bekannte Umgebung von essenzieller Wichtigkeit. Verschwinde der andere Elternteil ebenfalls, vertiefen sich Trauma und Trauer.

Wer Kindern zuhört, weiß, wie leicht sie sich eine Traumwelt aufbauen. Mit seinen sechs Jahren durchlebt Elián gerade jene Phase, die in der Psychologie als magisch-animistische bezeichnet wird. Wirklichkeit und Fantasie sind für Kinder in diesem Alter nicht leicht auseinander zu halten. Elián erzählte bei einem Interview überzeugt, seine Mutter habe sich auch nach Miami retten können, aber das Gedächtnis verloren und wisse nicht, wo er sei.

Aufmerksame Beobachter haben berichtet, dass Elián Fremden gegenüber extrem anhänglich ist. Er umarmt Journalisten, schmiegt sich an Besucher. Das sind typische Verhaltensweisen psychisch schwer gestörter Kinder. Dieses Detail ist dem zweifachen Vater Bush und dem vierfachen Vater Gore entgangen.

Man kann davon ausgehen, dass Elián eines Tages mit noch massiveren Verhaltensstörungen reagieren wird. Wie sollte er auch anders? Welcher Erwachsene würde es schaffen, nach einem schwer traumatischen Erlebnis alle Vertrauenspersonen und Bezugspunkte zu verlieren und in einer fremden Umgebung weiterzuleben, ohne durchzudrehen? Zu denken, für ein Kind sei das verkraftbar, ist unsensibel und dumm.

Armer Elián. Wenn alles gut geht, darf er mit seinem Vater nach Hause. Kuba wird ihn als Nationalhelden feiern. Die Narben vom Missbrauch im Namen der Freiheit werden ihm bleiben.

Irene Jancsy ist freie Journalistin und lebt in Wien.