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Was schenkt man einer Zeitung, die seit ihrer Gründung zu meiner täglichen Morgenlektüre gehört? Einige Ratschläge für die Zukunft, weil ich in den kommenden Jahren ein noch besseres Blatt lesen möchte.

Stärkere Multikulturalisierung

Eine meiner zwar nicht neuen, aber in Österreich echolos gebliebenen Thesen lautet: Stärkere Multikulturalisierung der journalistischen Sichtweisen. Sie ist nicht nur gesellschaftlich wünschenswert, sondern bringt auch mehr publizistischen Erfolg. Das Publikum wird noch bunter, weil die europäischen Länder – entgegen der derzeit restriktiven Politik – künftig mehr Zuwanderung brauchen werden. Das macht eine Sensibilisierung der Redaktion für die Bedürfnisse der verschiedenen ethnischen (und sozialen) Gruppen erforderlich. Erreicht werden kann sie durch mehrere Schritte. Die Multikulturalisierung der Redaktion durch gezielte Rekrutierungspolitik ist nur eine davon. Von den New York Times könnte man sich manche Anregung holen, wie das funktioniert. Zudem könnte das Vertriebsmarketing ein Integrationspaket schnüren. So wie Studierenden über Jahre eine preisreduzierte Zeitung in der Hoffnung angeboten wird, sie später zu Vollpreis- Abonnenten zu machen, könnte Zuwanderern ein günstiges Abo angeboten werden. Gute Information fördert den Integrationsprozess und macht vielleicht nicht nur manche zu langfristigen Vollpreislesern.

Noch europäischer werden

Noch europäischer werden, lautet die zweite These. Den Abbau der nationalen Grenzen mit Seiten wie "Crossover" geistig forcieren, scheint eine gesellschaftspolitisch und medienwirtschaftlich lohnende Perspektive. Die Grenzregionen der neuen EU-Nachbarstaaten erhalten in den kommenden Jahren nicht unwesentliche finanzielle Förderungen. Dies wird die wirtschaftliche und kulturelle Prosperität anregen. Vom österreichischen zum mitteleuropäischen STANDARD zu werden bedeutet: In einigen der neu in die EU aufgenommenen Ländern sowie in Beitrittswerber-Ländern gibt es schon jetzt nicht so wenige, die der deutschen Sprache mächtig sind. Mehr von ihnen zu künftigen Lesern zu machen, könnte durch den Ausbau inhaltlicher Angebote gelingen. Denkbar wären hier Themen-Beilagen, die in Kooperation mit Zeitungen aus den neuen EU-Ländern gestaltet und vermarktet werden.

Noch interessanter für Menschen mit Behinderung werden

Nicht nur die geistige Barrierefreiheit gilt es zu stärken, auch die für Menschen mit Behinderung oder Beeinträchtigung. Erste Schritte hat DER STANDARD durch eine (mit dem "Integrativen Journalismus-Lehrgang" gestaltete) attraktive Beilage gesetzt. Noch interessanter zu werden für Menschen mit Behinderung erscheint einfach, weil Reflexionen dazu in den vergangenen Jahren sich deutlich entwickelt haben. Ein simples Beispiel: In der Restaurantkritik sollte künftig der Rollstuhlfahrer, der mit seinen Freunden essen gehen will, immer erfahren, ob er in das empfohlene Lokal auch problemlos reinkommt. Der Aufwand dafür: eine Recherchefrage und ein Symbol in der Kritik.

Stärkung der Redaktionen

Politik und Wirtschaft haben mit starken PR-Abteilungen gegenüber den Medien hochgerüstet, auch etliche andere Bereiche der Gesellschaft bieten den Medien mundgerecht nicht nur Ideen für Geschichten, sondern gleich auch diese selbst an. Die Situation ist verführerisch für Redaktionen, die zumeist personell unterbesetzt sind. Eigentlich wäre die notwendige Reaktion der Medienunternehmen eine kräftige Stärkung der Redaktionen, um die durch professionelle Public Relations errichteten Potemkin'schen Dörfer niederzureißen und dem Publikum die Realität dahinter zu vermitteln. Ein derzeit – nicht nur vom Standard – richtigerweise beschrittener Weg der Gegenstrategie ist die bewusste eigene Themensetzung (z. B: "Themen"-Seite, ALBUM). Die Kreation neuer Themen (die auch darin bestehen soll, dass alte, von der Politik und anderen gesellschaftlichen Akteuren "entsorgte" Themen wieder aufgegriffen werden) bietet Tageszeitungen die Chance, mediales Terrain zurückzugewinnen.

Investigativer Journalismus

Investigativer Journalismus wäre ein weiterer Weg, den schon vor vielen Jahren amerikanische Zeitungen beschritten haben und sich damit stärker gegenüber den konkurrierenden elektronischen Medien positionieren konnten. In Österreich hat die enorme Verschränkung des Medienmarktes die Magazine einiges an Konkurrenz – und damit Attraktivität – gekostet. Aufwändiger Journalismus wird seltener, investigativer Journalismus kaum noch betrieben, da der Sparstift regiert, um den Profit des Mediaprint- und Formil-Konzerns weiter zu stärken. Die nicht eingebundenen Tageszeitungen haben hier die Chance, sich zu positionieren.

Demokratiepolitisch wünschenswert

Schon gezieltes investigatives Recherchieren zu wenigen ausgewählten Themen reicht, um das eigene Profil zu stärken. Dass investigativer Journalismus – entgegen der vom ehemaligen Justizminister Böhmdorfer geäußerten Überzeugung – demokratiepolitisch wünschenswert und notwendig ist, soll hier im STANDARD nicht debattiert werden müssen.

Manches sogar exzellent

Je mehr Vorschläge hier für die Zukunft verschenkt werden, desto unbeliebter mache ich mich vielleicht, weil sie implizit als Defizit des gegenwärtigen STANDARD gelesen werden. Abgesehen davon, dass andere Tageszeitungen diese Defizite ebenso aufweisen, halte ich dieses Blatt für eine für österreichische Verhältnisse sehr gut gemachte Zeitung, manches davon ist sogar exzellent.

Stärke Medienberichterstattung

Eine weitere Stärke des STANDARD ist seine Medienberichterstattung. Da in Österreichs Schulen noch immer nur selten systematisch Medienkompetenz vermittelt wird, könnte DER STANDARD das für medienkritisches Handeln nötige medienkundliche Wissen journalistisch aufbereiten, allenfalls als Serie im SchülerSTANDARD. Die Informationen auf der Seite "Kommunikation" werden derzeit vermutlich in erster Linie von Medienfachleuten gelesen, weil dem breiteren Lesepublikum Grundlagen der Medienbranche in der schulischen Bildung nie (ausreichend) vermittelt wurden.

Auf Defizite hinweisen

Die Defizite gesellschaftlicher Teilbereiche – etwa jenes der Medienkompetenzvermittlung – auszugleichen, soll nicht als journalistische Aufgabe definiert werden. Aber auf Defizite hinzuweisen ist primäre journalistische Funktion. Und es werden Zeitungen, die zugleich versuchen, manche Defizite wettzumachen, vom Lesepublikum wahrscheinlich belohnt. Und gerade in einem Wettbewerb mit Konkurrenten – der eigenen Branche sowie anderen Medien – sind an hoher Qualität orientierte Zeitungsverleger gut beraten, die Kritikfähigkeit des Publikums zu fördern. Denn medienkompetente Menschen entscheiden sich für das gut gemachte Blatt. Auch der erfrischende "Blattsalat" Günter Traxlers wird dann sicher von noch mehr Lesern genossen. Ein önologisch geschulter Gaumen registriert einen guten Wein auch anders als ein unbedarfter und unachtsamer.

Glaubwürdigkeit

Glaubwürdigkeit ist ein wesentliches Kriterium im Wettkampf der Medien ums Publikum. Was kann die Tageszeitung künftig tun, um stärker zu punkten? Ich würde systematisch im Blatt über die eigenen Fehler des Vortages bzw. der Vortage in einer knappen Rubrik berichten, wie dies etwa die New York Times schon länger macht. Dafür bedarf es nicht gleich eines aufwändigen Redaktionsteams, das die erschienenen Artikel gegenrecherchiert. Die Rubrik ist wohl leicht zu füllen mit den selbst entdeckten Mängeln, die typischerweise bei der Blattkritik in der Redaktionskonferenz des nächsten Tages zur Sprache kommen. Auch Hinweisen von Lesern soll nachgegangen werden.

Innovativer "Kommentar der anderen"

Innovativ war DER STANDARD bei seiner Gründung – für österreichische Verhältnisse – mit der Seite "Kommentar der anderen". Konkurrenten zogen nach und bestätigen die Richtigkeit der damaligen Entscheidung, die aus der Kenntnis der internationalen, vor allem amerikanischen Zeitungsszene resultierte. Diese Erfahrung sollte dazu ermutigen, ausführlich die journalistischen Innovationen in jenen Ländern zu analysieren, die über ein entwickelteres Mediensystem verfügen.

"Elite"

DER STANDARD verdient schon aufgrund der ersten 5000 Ausgaben zweifellos das Etikett "Elite". Er kann sich diese Position sichern und weiter wesentlich zu meinem geistigen Frühstück beitragen, indem er in Zukunft das Bewährte fortsetzt und zugleich bewusst avantgardistisch agiert, also mutig manche neuen Wege geht. (DER STANDARD/Album, Printausgabe, 18./19.6.2005)