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Dieser Auftrag schickt mich in ein Minenfeld; bitte, ich mache gute Miene zum Spiel. Was bedeutet die Lektüre des STANDARD aus politisch korrekter Sicht? Wenn ich einmal den schlichten Gedanken beiseite lasse, ich wäre hier als politisch korrekte Erscheinung gefragt und würde gefragt, ob ich den STANDARD lese, wären die Antworten schnell gegeben: Wenn Sie mich fragen, ob ich mich selbst als "politisch korrekt" betrachte, bin ich gut beraten, das Thema zu wechseln. Und ja, selbstverständlich meine ich, man muss den STANDARD lesen.

Politisch korrekt – wann habe ich dieses Wort zum letzten Mal gelesen? Im Zusammenhang mit dem stalinistischen Terror und der Verzweiflung der russischen Intelligenzija. Auch damals, in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, war nicht zweifelsfrei festzustellen, worin ein "politisch korrektes" Verhalten bestanden hätte. Man konnte jederzeit des avantgardistischen oder reaktionären Abweichlertums bezichtigt werden, nur der Selbstmord bot einen Ausweg aus dieser vom System des Stalinismus beabsichtigen Unsicherheit. Einen Ausweg, aber keine Sicherheit.

"Political Correctness" als Scherzwort

In den späten 60er-Jahren habe ich "Political Correctness" als Scherzwort in den USA aufgeschnappt; sicher bin ich mir nicht, obwohl ich dort ein Jahr in entsprechender Umgebung verbracht habe. Man bezeichnete mit "Political Correctness" in der Studentenbewegung selbstironisch eine Verfehlung gegen eine angenommene linke Vorschrift, etwa kein Football-Spiel oder keinen McDonald's zu besuchen, was man natürlich trotzdem tat. Die 68er waren in den USA geradezu emphatisch antiautoritär und antistalinistisch. Leute wie Abby Hoffman ("Steal this book") und Paul Krassner (Herausgeber der politsatirischen Zeitschrift "The Realist") so etwas wie Führer einer Spaßguerilla ante verbum.

Erst in den 80er-Jahren – wir sind noch immer in den USA, allerdings habe ich das nur am Rand selbst erlebt – wurde Political Correctness bitterernst genommen und von Minderheiten und deren Interessenvertretungen als Waffe im Ideologiekampf erkannt. Die Ironie war spätestens ab diesem Augenblick aus der Sache verschwunden, und so bekam sie auch ihr Kürzel, ihre Verdichtung zu den Buchstaben PC. Der Germanist Hans-Ulrich Gumbrecht hat darauf hingewiesen, dass Political Correctness eine Nebenerscheinung des Multikulturalismus war, allerdings eine ziemlich unangenehme. Wenn man die amerikanische Situation mit der europäischen vergleicht, sollte man den wesentlichen Unterschied nicht übersehen: In den USA war PC eine politische Waffe von ethnisch, sexuell, sozial und kulturell diskriminierten Minderheiten, deren Verhältnisse unter anderem dadurch verbessert werden sollten, dass sie selbst ihre Bezeichnungen für sich wählten und nicht jene akzeptierten, die ihnen von der dominanten Kultur der WASPs, der White Anglosaxon Protestants vorgeschrieben wurden.

"Chemisch unpässlich"

Die teilweise absurden Folgen sind bekannt: Ich wäre, wenn ich über dem Thema verzweifle und ein paar Gläschen zu viel trinke, nicht betrunken, sondern "chemisch unpässlich". Jemand Behinderten "anders befähigt" zu nennen halte ich geradewegs für eine Verhöhnung, wie mir die ganze Idee, durch Behübschung von Sprachgewohnheiten soziale Realitäten abzuschaffen, absurd erscheint. Die PC-Bewegung in den USA verursachte zwar riesiges Aufsehen und vergiftete das Klima vor allem an den Universitäten, änderte jedoch wenig an den gesellschaftlichen Verhältnissen.

In Europa haben wir bekanntlich eine andere soziale und ethnische Situation als in den USA. Die PC-Debatte, Mitte der 90er in Amerika bereits im Abklingen, kam in Europa erst um diese Zeit so richtig in Fahrt. Und wenn man diese Debatte, die meint, selbst sozialen Wandel in Gang zu setzen, auch als Ausdruck dieses Wandels begreifen will, könnte man sagen, in Europa habe sie die neoliberale Wende mit eingeläutet. Zuerst griff sich die Rechte mit Lust den Begriff, dann resignierte die Linke. Die Rechte setzte PC flott mit "Tugendterror" gleich, den die Linke ausgeübt habe und gegen den es nun anzutreten gelte. Holocaust-Leugner versuchten, sich damit das tolerante Ansehen von Gemütsmenschen zu geben, schließlich ging es ja gegen Diskursverbote, und reden, nicht wahr, Herr Gudenus, wird man doch über alles dürfen? Richtig, sofern es sich nur um Diskursverbote, nicht aber um Gesetze handelt, die man missachtet.

Reiz und Reaktion

Die Absicht der Rechten war durchsichtig genug, sie wollte die Hegemonie erringen und generell linke Argumente diskreditieren; die Linke, damals in Österreich an der Regierung, aber deswegen noch lange nicht dominant in der öffentlichen Meinung, machte es ihr leicht. In der hier zu Lande besonders ausgeprägten Unfähigkeit zur Debatte, bei gleichzeitiger Neigung zu öffentlichem Gebrüll triumphierte das Schema von Reiz und Reaktion: Wie leicht war es, einen empfindsamen Gutmenschen (das war sozusagen die weiche Innenseite des umgestülpten Tugendterroristen) zum Aufquietschen zu bringen! Wie freudig wurde dieser Sport geübt, mit welch geringem Erkenntnis-, aber welch hohem Unterhaltungswert! Die Debatten zwischen Provokateuren und Provozierten füllen ganze Jahrgänge der Kommentarseiten im STANDARD. Es war eine herrliche Zeit.

Man darf bei allen Absurditäten nicht die Berechtigung übersehen, die im Anliegen der PC- Bewegung steckt: Sie legt den Finger auf Diskriminierungen. Ihre sozialen Anliegen sind so oft berechtigt, wie es ihre sprachlichen nicht sind, vor allem, wenn sie meint, in einem Aufwaschen gleich beide zu erledigen. Sie will neue Verhaltensweisen einüben und meint, das mit neuen Redeweisen schaffen zu können; ihre Kritiker fühlen sich der Diskussion gesellschaftlicher Missstände enthoben, weil sie es mit Leuten zu tun haben, die Denk- und Sprechverbote fordern oder zu fordern scheinen.

Diskursbecken

Man sieht also, die Sache oszilliert, sie wogt hin und her. Was wäre besser geeignet, diesem Anbranden der Diskurswogen einen Raum zu geben, als der Swimmingpool einer österreichischen Tageszeitung? In diesem Diskursbecken nehmen sich auch international kleine intellektuelle Fische gefährlich aus wie Haie oder elegant wie Delfine, wenn sie sich über die hysterisch blinkenden Schwärme der Gutmenschen hermachen. Im Ernst: Political Correctness ist bei uns etwas anderes als in den USA. Ich habe das Gefühl, dass jemand, der sich hier politisch korrekt verhalten möchte, nichts anderes im Sinn hat, als weder die Gefühle von Minderheiten aller Art zu verletzen, noch vor dem Verdikt der Geschichtspolitik abzuducken. Als die Vergangenheitspolitik noch klein war, sah sie aus wie der berechtigte Wunsch, geschönte und instrumentalisierte Geschichte neu zu schreiben. Als die feministische Sprachkritik noch klein war, hatte sie eine Neudefinition sozialer Geschlechterrollen im Sinn. Und so weiter.

"Verfolgende Unschuld"

Die einschlägigen Tabubrüche der PC-Gegner laufen hingegen nach einem Muster ab, das Christian Staas in der Zeit das "Prinzip Möllemann" genannt hat. "Man halluziniert ein Tabu, um es dann als solches zu beklagen und den Tabubruch als emanzipatorischen Akt zu feiern." Aber auch der Political Correctness kann man ein gewisses paranoides Moment nicht absprechen, sie ist oft genug das, was Karl Kraus eine "verfolgende Unschuld" genannt hat.

Mir ist das klar geworden, als der Philosoph Oliver Marchart dem "Falter" vorwarf, den "Schulterschluss mit dem österreichischen Boulevardjargon" vollzogen zu haben und folgenden Satz schrieb: "Aber der österreichische Rassismus (...) kann nicht im offiziellen Jargon ebendieses Rassismus behandelt werden." Als Beweis zitierte Marchart einen kolportagehaften Satz ("Reifen quietschen, Scheinwerferkegel jagen durch den Park, rund dreißig Afrikaner verschwinden in die dunkle Nacht") und behauptet, dass diese "Boulevardesk-reißerische Story genauso in News oder Krone zu finden wäre". Aus seiner Behauptung leitet der Autor den Vorwurf ab, der Falter verwende den "offiziellen Jargon des österreichischen Rassismus".

Politisch korrekte Zeitung

Dagegen kann man nichts machen als eine Zeitung. Eine gute Zeitung hat ebenso Platz für das Prinzip PC wie für die Kritiker dieses Prinzips, für Ironiker, Paranoiker, Provokateure und ganz gewöhnliche Publizisten (eine verschwindende, durch keine politisch korrekte Behandlung zu erhaltende Minderheit). Weil er diesen Platz hat und bereithält, war und ist DER STANDARD eine gute, das heißt in diesem Sinn politisch korrekte Zeitung. (DER STANDARD/Album, Printausgabe, 18./19.6.2005)