Foto: STANDARD/Hendrich
Es war am 4. November 1979, einem Tag, der in stahlblauer Kälte erstrahlte, dass ich dem Postkasten einen lang erwarteten Briefumschlag entnahm, mich in das Kellerloch des baufälligen Hauses am Stadtrand von Salzburg zurückzog, in dem ich mit einer wachsenden Sammlung stockfleckiger Bücher zusammen wohnte, und fürs Erste daran ging, den Ofen mit Holzscheiten anzuheizen. Erst als es warm wurde, öffnete ich das Kuvert, das die Novemberausgabe der legendären Zeitschrift "Wiener Tagebuch" enthielt. Dann sah ich mir das Inhaltsverzeichnis an und blätterte, da und dort lesend, langsam die ganze Zeitschrift durch, bis ich, mit einem seither nie mehr wiedergekehrten Gefühl der Genugtuung, ganz am Ende des Heftes auf meinen Artikel stieß. Es handelte sich um die Rezension eines Buches von Peter Bichsel, das den Titel "Geschichten zur falschen Zeit" trug, welcher mir nachträglich gar nicht so schlecht als Motto für meine eigenen Artikel zu passen scheint, von denen ich in den 26 Jahren, die seither vergangen sind, über tausend verfertigt habe. Die Freude, die mich angesichts dieser bescheidenen Arbeit erfüllte, war der Zuversicht verschwistert, ab jetzt an einem großen Gespräch teilzuhaben, das mich mit unzähligen Leuten verbinden würde, an einer intellektuellen Debatte über die Grenzen des Ortes und der Ideologie hinaus, an der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt, die mit den Mitteln der Literatur erkundet und gedeutet zu werden verdiente.

Über Jahre habe ich nur das "Wiener Tagebuch" gehabt, das meine Glossen, Kritiken, Porträts, Polemiken, meine Versuche, der offiziösen Amnesie die Verschollenen, Totgeschwiegenen, Ermordeten der österreichischen Kultur und Geschichte entgegenzusetzen, veröffentlichte. Welcher österreichischen Zeitung oder Zeitschrift immer ich meine Arbeiten schickte, an denen ich wochenlang feilte und in die ich, weil ich damals noch keine Bücher schrieb, alles hineinlegen musste, was ich zu sagen zu haben glaubte – ich erhielt nicht einmal eine Absage. Gleichwohl war ich nicht am Verzweifeln, denn zum einen war ich damals von einem unerschütterlichen Glauben an mich bestimmt, der mir heute unangebracht erscheint; keineswegs war dieses Zutrauen, mich wider alle Widerstände jedenfalls behaupten zu können, nur meine eigene private Angelegenheit, es war vielmehr einer ganzen Generation selbstverständlich, die in einer Zeit aufwuchs, da eine bestimmte Ausbildung noch dazu berechtigte, den erwünschten Beruf auch tatsächlich auszuüben, und in der es zudem möglich war, sich mit Talent und Fantasie seinen Platz in der Gesellschaft auch ohne staatliches Diplom zu erkämpfen. Dass weder Fleiß und Ausbildung noch Talent und Kühnheit, sondern allenfalls Rücksichtslosigkeit und Selbstaufgabe davor schützen, sich als fungible Hilfskraft der großen ökonomischen Maschine verdingen zu müssen, diese "Errungenschaft" der neoliberalen Modernisierung, die so viele der Jungen von heute mutlos macht, sie ihre berechtigten Ansprüche vergessen lässt oder aber in den Opportunismus treibt, war über meine Generation noch nicht "verhängt". Um seine Sache mutig ohne Rückversicherung anzugehen, dafür brauchte man damals gar nicht so mutig zu sein.

Zuspruch, Kritik, weiterführende Diskussion

Und zum anderen war da eben das "Wiener Tagebuch", das zwar eine kleine, aber politisch wache, kulturell aufgeschlossene Leserschaft hatte, die sich selbst für scheinbar abseitige Themen interessieren ließ, die mich beschäftigten, und die auf so vieles, was ich schrieb, reagierte: mit Zuspruch, Kritik, weiterführender Diskussion. Als es mich nach Jahren doch deprimierte, immer nur für den erlesenen Kreis dieser Zeitschrift zu schreiben, auf andere Resonanz in Österreich jedoch nicht zu hoffen war, hatte ich eine gute Idee. Statt darauf zu warten, von den österreichischen Redakteuren zwischen Bregenz und Wien auf nichts, weder auf meine Porträts vergessener Dichter Mitteleuropas noch auf meine Traktate über Österreich und Europa, eine Antwort zu erhalten, schickte ich ein paar meiner Versuche gleich dorthin, wo für die meisten österreichischen Zeitungsintellektuellen jene Glocken hingen, deren Läuten ihnen verriet, was die geistige Stunde geschlagen hat: an die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit". Keine zwei Wochen später fand ich mich an diesem honorablen Ort auch schon veröffentlicht. Und ebenso erging es mir mit der "Neuen Zürcher" und einer Anzahl anderer Zeitungen, die von dem Namenlosen aus Österreich druckten, was er ihnen ohne Empfehlung angeboten hatte.

Was jetzt folgen musste, war natürlich die österreichische Posse. Dieselben Redakteure, die mich jahrelang nicht einmal einer Absage gewürdigt hatten, fragten nun mit der ganzen Heuchelei, zu der sie ehrlich ergriffen fähig waren, ob ich denn etwas gegen Österreich habe, weil man mich nur in ausländischen Medien lesen könne. Und so kam es, dass ich, der ich mich in meinen ersten Jahren als Autor mit nichts so leidenschaftlich beschäftigt hatte als mit Österreich, am Ende sogar in Österreich veröffentlicht wurde. Seither ist viel Zeit vergangen, und die Welt hat sich mit mir und gegen mich, jedenfalls aber unbeeindruckt von mir verändert. Jenes Glück, schreibend teilzuhaben an einem Gespräch, in das viele Stimmen sich einmischen, an einer geistigen Auseinandersetzung, die es lohnt, mit Schärfe und Stil geführt zu werden – war es mir in den vergangenen Jahren nicht reichlich beschieden? Nein, keineswegs.

Zwar wäre es hochmütig vermessen, darüber zu klagen, dass es mir heute möglich ist, fast überall über fast jedes Thema, zu dem ich mich zu Wort melden möchte, auch tatsächlich das Meine öffentlich machen zu können. Nur kommt leider hinzu, dass es inzwischen fast gleichgültig geworden ist, dass ich es tue und wie ich es tue. Keine Angst, das wird keine Jeremiade über neues Unrecht, das einzig mir höchstpersönlich widerführe! Es ist vielmehr ein objektiver Befund, der für alle gilt, die heute im Feuilleton schreiben und die Zeitung nützen möchten, auf ihre eigene, sei es kontroversielle Weise über die Gesellschaft, also über uns, was wir treiben und mit uns geschehen lassen, nachzudenken, gleichviel ob sie es analytisch oder empört, pessimistisch oder zukunftsfroh anlegen und im Übrigen originelle Denker, subtile Stilisten oder anerkannte Hohlköpfe sind.

5000 Ausgaben des STANDARD liegen jetzt vor, und ich frage mich, wie oft ich selbst etwas für den "Kommentar der anderen" oder das ALBUM beigetragen habe. Es werden sicher fünfzig Texte gewesen sein, wahrscheinlich mehr. Aber nicht nur in düsterer Stimmung, die einen jeden von uns manchmal umfängt, ist mir völlig klar, dass die mediale Entwicklung, von der auch DER STANDARD ergriffen wurde, dazu geführt hat, dass es allem, was im Feuilleton veröffentlicht wird, gleich ergeht: Es ist, als wäre es nie geschrieben worden. Was auch geschieht, das Rad muss stets neu erfunden werden.

Als ich im Frühjahr die vielen Artikel las, die nicht nur im STANDARD zum Jahr der österreichischen Jubiläen, zur Entwicklung der europäischen Dinge erschienen, fragte ich mich, was ich denn zu diesen Debatten, die auf meinem ureigenen Gelände geführt wurden, beisteuern könnte.

Doch hatte ich bei so vielem, das ich vorgesetzt bekam, den Eindruck, ich würde das alles schon kennen und schon anderswo gelesen haben. Und ich kannte es tatsächlich und hatte es tatsächlich schon gelesen. Mitunter sogar in meinen eigenen Aufsätzen, die ich in ebendiesen Zeitungen vor sechs Monaten oder drei Jahren veröffentlicht hatte. Nun wäre es eine eitle Versuchung gewesen anzunehmen, dass eben auch ich bereits meine Plagiatoren gefunden hätte, die zuerst heftig abwiesen, was sie sich später selbst zu Eigen machten. Aber das hieße, den Vorgang gänzlich misszuverstehen. Nicht um geistigen Diebstahl geht es nämlich, der ja ein Zeichen hoher, wenngleich verzögerter Wirksamkeit ist, sondern ums gerade Gegenteil: um die Wirkungslosigkeit dessen, was doch geschrieben stand und durchaus auch auf Wirksamkeit zielte, ja um die Beliebigkeit von dem, was einst gar nicht beliebig gedacht und formuliert wurde.

Da die Unterhaltung alle Sphären der Medien erfasst, jedem Sektor der Information ihre Signatur aufgeprägt hat, ist es ihr gelungen, selbst die häretische Gegenstimme dem Chor des Konformismus einzufügen. Vom Streit, der geführt wurde, bleibt einzig, dass es ihn vergnüglich irgendwann gegeben hat und nicht, worum er ging und wer in ihm wie argumentierte. War da nicht etwas mit einer Autorin, die später Nobelpreisträgerin wurde und vermutlich schon deswegen Recht hatte – aber Recht worin und wodurch? Geschenkt, Hauptsache, es war was.

Was der eine sagt, hat der andere schon vergessen, noch ehe er es zu Ende gelesen hat, und wie er vergisst, was der andere behauptete, vergisst er auch, dass er sich noch gestern heftig gegen das erregte, was er heute verficht. Der Kommentar, der uns abverlangt wird, hat immer rascher geliefert zu werden, und das Nachdenken über die Dinge sollte am besten schon seine finale Pointe gefunden haben, bevor jene überhaupt geschehen sind. Kenntlich wird dieser Verschleiß an den allseits beliebten Vordenkern, von denen jede Partei und Firma eine wachsende Anzahl ihr Eigen nennt und die allesamt so streberhaft mit dem Vordenken beschäftigt sind, dass sie gar nicht mehr zum Nachdenken kommen. Der Unwille, den ich dagegen empfinde, ändert nichts daran, dass ich selbst einer der vielen Protagonisten dieses Prozesses bin, den ich kritisiere; und dass ich mich, verärgert, entmutigt, in Kontroversen verwickelt finde, von denen mir nicht verborgen bleibt, dass sie den Verhältnissen nur insofern angemessen sind, als sie für das Publikum inszeniert wurden.

Kein Ausweg

Was das bedeutet – für einen Autor, der sich nicht schon prinzipiell zu schade ist, aus gegebenem Anlass auch ins Gefecht des Tages zu ziehen; für die Redakteure der Zeitungen, von denen ich immerhin einigen zubillige, dass sie auch kritischen, das heißt zuallererst: ihr eigenes Tun kritisierenden Stimmen Gehör zu verschaffen bereit sind; für die Öffentlichkeit, die die einen wie die anderen braucht, um sich aufgeklärt selbster abzuschaffen?

Ich weiß es nicht, und weiß vor allem keinen Ausweg daraus. Verstummen wäre schön, aber ist langweilig und würde die Sache, natürlich, auch nicht zum Besseren wenden. Dies ist daher auch keine Rücktrittserklärung. Nur der unzulängliche Versuch zu rechtfertigen, warum ich nach tausend streitbaren Artikeln meine Zeit lieber damit verbringe, langsam an Büchern zu schreiben, denen jede Aktualität ermangelt, als mich unverdrossen in Debatten zu stürzen, deren Aktualität schon heute von gestern ist und die, indem sie über etwas aufzuklären versuchen, doch zu Verdunkelungsübungen geraten, die uns paradoxerweise im Erinnern das Vergessen lehren. (DER STANDARD/Album, Printausgabe, 18./19.6.2005)