Rüdiger Lohlker (46) ist einer der wenigen Islamwissenschafter weltweit, die sich mit dem Auftritt des Islam im Internet befassen. Er ist seit 2003 Inhaber einer neuen Professur für Islamwissenschaften am Institut für Orientalistik der Universität Wien, vorher lehrte er in Göttingen, Kiel und Gießen. Seine Forschungs­schwerpunkte sind unter anderem Islamisches Denken, Recht, Islam und Internet.

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Standard: In der islamistischen Szene - von ganz radikal bis zum "normalen" politischen Islam - boomt das Internet. Von den Djihadisten im Irak hat man manchmal den Eindruck, dass sie überhaupt via Verlautbarungen in Homepages miteinander und mit der Außenwelt kommunizieren.

Lohlker: Das Internet ist in jedem Fall ein Medium, in dem versucht wird, einerseits mit der internationalen Gemeinschaft zu kommunizieren, andererseits innerhalb des irakischen Untergrundes zu punkten, eben unter anderem durch die Möglichkeit, mit der internationalen Gemeinschaft zu kommunizieren. Das bedingt einander.

Standard: Die Ausstrahlung via Internet von grausamen Geiselszenen bis hin zu Enthauptungen: Wer war da der Adressat?

Lohlker: Dadurch, dass man demonstriert, wie weit man zu gehen bereit ist, kann man einen Ansehensgewinn, einen Distinktionsgewinn gegenüber anderen Gruppen erreichen, die nicht über diese - sarkastisch gesagt - "Marketingmöglichkeit" verfügen. Es geht darum zu demonstrieren, wer die radikalste - und damit einzig wahre Position - in diesem Spektrum einnimmt.

Standard: Diese Szenen sind seltener geworden: Vielleicht aus Angst, auch die eigenen potenziellen Anhänger durch zu viel Gewalt zu verstören?

Lohlker: Ich denke, es war denen, die diese Videos produzierten, gar nicht klar, welche Resonanz - nämlich eine negative - das in der arabisch-muslimischen Welt haben würde. Sie hatten nichts aus der ägyptischen Erfahrung gelernt: dass, wenn eine gewisse Grenze überschritten wird, die Reaktionen der Bevölkerung negativ sind. Oder auch wie in Algerien, wo dann schließlich irgendeine Art von Frieden, auch wenn er von staatlicher Seite vollzogen wird, gewünscht wird.

Standard: Gibt es entsprechende Unmutsäußerungen auf diesen Websites, etwa dass Leute schreiben "Ihr Mörder" oder Ähnliches?

Lohlker: So etwas ist mir nicht begegnet. Es ist eher eine Diskussion unter Gleichgesinnten, die da stattfindet. Und wenn so etwas auftritt, wird es vermutlich durch Moderatoren sehr schnell gelöscht. Es wird Propaganda betrieben, auch Orientierungen werden gegeben. Nach den letzten Wahlen in den USA gab es etwa auf einer Website ein Foto einer Schlange vor einem Wahllokal, und da hieß es dann sinngemäß: "Ihr seid alle unsere Feinde, wenn ihr euch an diesen Wahlen beteiligt", also jeder Bürger der USA wurde durch dieses Foto zum Feind erklärt.

Standard: Reflektieren Websites, die ja in erster Linie auf Propaganda abzielen, wirklich exakt die Inhalte der Gruppen, besonders im Fall jener Gruppen, die eher dem Mainstream des politischen Islam nahe stehen?

Lohlker: Da kommen selbstverständlich Elemente der Ideologie, die vorhanden sind, zum Tragen. Aber wenn wir Internetpräsenzen beobachten, dann dürfen wir sie andererseits nicht isoliert betrachten. Wenn mit griffigen Parolen und griffigen Bildern propagandahafte Wirkung erzeugt wird, ist das immer rückgekoppelt an die tatsächlichen Aktivitäten solcher Organisationen.

Zum Beispiel die Hisbollah: Sie mobilisiert gegen Israel mit allen Mitteln, leider eben auch mit antisemitischen Mitteln. Das ist aber gleichzeitig im Kontext der Konfrontation mit Israel zu sehen. Da ist das Bewusstsein der Hisbollah, dass ihr Zielpublikum anzusprechen ist mit einem Appell an den im Alltagsbewusstsein der arabischen Welt vorhandenen Antisemitismus. Aber es ist auch eine Methode, an etwas anzudocken, um dann weitere Inhalte zu transportieren. Das ist sehr situativ bedingt.

Was mich vor allem interessiert, sind aufklärerische Seiten, auf denen theoretische Diskussionen geführt werden. Es gibt Seiten, die Aufsätze oder Bücher bereithalten, auf die auch sehr viel zugegriffen wird, das sind oft sehr umfangreiche moderne Abhandlungen. Da ist das Internet nicht nur Propagandamedium, sondern Theoriebildungsmedium. Das ist die Seite, die nicht wahrgenommen wird im Westen, wahrgenommen werden hier nur die Djihadisten. (DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.6.2005)