Der tragische Tod eines Elfjährigen wirft ein Schlaglicht auf die Zustände in den Banlieues um Paris – und auf die politische Augenauswischerei, die Innenminister Sarkozy betreibt.
***

Paris - Gewiss, die "Cité des 4000" (Siedlung der 4000) ist einiges gewohnt: Autodiebstähle, Drogenhandel und Schusswechsel sind in dieser Vorstadt nördlich von Paris an der Tagesordnung. Diese Woche staunten die Bewohner aber nicht schlecht, als 200 Polizisten in voller Kriegsmontur wie aus heiterem Himmel in das Quartier einfielen. Wie Marsmenschen sahen sie aus, die vermummten und bis an die Zähne bewaffneten Spezialtruppen der Einsatztruppe Raid: Gewehre im Anschlag, Kopfhörer aufgesetzt, Pistolen und Handschellen griffbereit, sicherten sie Hausecken und traten Kellertüren ein, als wären sie in Bagdad und nicht in einer der gesichtslosen Trabantenstädte Frankreichs.

Was war geschehen? Zwei Tage zuvor war ein Bub namens Sidi-Ahmed, der diesem lauen Sommerabend gerade das Auto seines Vaters wusch, unversehens zwischen die Fronten einer Bandenschlacht geraten. Von zwei Kugeln getroffen, starb der Elfjährige, ohne dass er auch nur wusste, wie ihm geschah.

Gereinigte Viertel

Nach einer unruhigen Nacht drang die Neuigkeit bis nach Paris, wo Nicolas Sarkozy sogleich in Aktion trat. Seinen Zorn mit den Bewohnern der "Cité des 4000" teilend, erklärte der Innenminister, die Republik könne nicht akzeptieren, dass auf ihrem Gebiet rechtlose Räume existierten; er werde persönlich dafür sorgen, dass die Viertel von kriminellen Elementen "gereinigt" würden.

Dass solch populistische Sprüche sonst eher von Rechtsextremisten wie Jean- Marie Le Pen zu hören sind, ging in der allgemeinen Aufregung unter. Dafür suchte "Supermann" Sarkozy mit den Elitesoldaten und den Fernsehkameras im Schlepptau die "Cité des 4000" auf und versprach der Familie, die Verhaftung der Täter sei "eine Sache von Stunden". Das war am Dienstag. Die 200 Elite-Rambos wurden der vier Verdächtigen auch nicht habhaft, als sie die Wohnsilos generalstabsmäßig durchkämmten. Sie setzten sogar chemische Armeestoffe ein, um allfällige Drogen oder Waffen zu orten; ihre einzige "Beute" war allerdings ein Tretroller.

Ein Polizeisprecher sprach gleichwohl von einem Erfolg: "Auf Anweisung des Ministers wurde gezeigt, dass die Polizei allzeit und überall ist." Als die Gendarmen wieder weg waren, meinten ein paar Jugendliche zu den Journalisten: "Die Typen, die Sidi-Ahmed getötet haben, sind doch längst über alle Berge. Sarkozy wird sie nie erwischen."

Ein querschnittgelähmter Jugendlicher fügte an: "Die Operation ist reiner Bluff. Wenn schon, hätten sie vorher kommen müssen." Gelähmt ist er, weil er vor zwei Jahren ebenfalls unbeteiligt in einen Schusswechsel geraten war. Damals war Sarkozy auch schon Innenminister gewesen und hatte der bewaffneten Kriminalität den Kampf angesagt. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD Printausgabe 23.6.2005)