Scout Niblett
Kidnapped By Neptune
(Edel)

Foto: Edel
Zwischen gehauchten Kinderliedern und Rüpelrock


Die britische und seit einigen Jahren bei San Francisco lebende Sängerin, Schlagzeugerin und Gitarristin Emma Louise "Scout" Niblett wird seit ihrem Debüt "Sweet Heart Fever" aus 2001 so gut wie in jeder Besprechung nicht nur mit ihrer äußerst feinfühligen, weil stillen und leisen US-Kollegin Cat Power verglichen. Dank ihres frei und recht übermütig über einem losen Freistil-Rock flottierenden, gepressten Gesangs reichen die Verweise mitunter auch bis hin zu Björk. Am allermeisten aber wird ihre in Folge auch auf den (Mini-)Alben I Conjure Series und I Am dokumentierte Kunst mit dem übermächtigen britischen Vorbild PJ Harvey in Beziehung gesetzt. Wie jetzt auch die unter der Regie des ebenfalls schon für PJ Harvey tätigen Steve Albini aus Chicago entstandene Songsammlung Kidnapped By Neptune belegt, ist dieser Verweis so falsch nicht. Immerhin zielt auch Scout Niblett mit wuchtig agierender, in einem Koordinatensystem von bis auf das Grundgerüst abgespecktem Bluesrock verorteter Rhythmusgruppe und schrillen Gitarrensplittern auf ein ähnliches Gebiet wie PJ Harvey in ihrer Frühzeit.

Bloß, wo Harvey gesanglich grundsätzlich das Forte bevorzugt und ihr Leiden an der Welt eher der milden Hysterie überantwortet, erforscht die kauzige Perückenträgerin Niblett die Grenzbereiche zwischen verletzter Seele, bösem kleinen Mädchen und Walküre nicht nur durch eine oft überraschend Richtung Kinderlied steuernde Sensibilität. Schöne Singalong-Melodien werden hier auch knapp bis an den Nullpunkt gebracht. An diesem wird dann mit guter alter Stop-and-go-Dynamik ein infernalisches Bandgrollen angeworfen, das bis hin zu Nirvanas Intensität bei Smells Like Teen Spirit langt.

"Wir erwachten wieder und spazierten in die Stadt. Meine Hand hielt deine. Aber wer war jetzt stolz darauf, mit dem anderen zusammen zu sein? Ich glaube, ich war das." Solche Texte sind nicht das Geringste. Darauf muss man gerade auch wegen all der hier verbreiteten Zurückhaltung vor den zwischengeworfenen Wut- und Lebensausbrüchen auch erst einmal kommen. In einem Bereich, der grundsätzlich nur die Entäußerung kennt, sind die Minimalismen von Scout Niblett grundsätzlich sehr viel. Zwischen Pose und Haltung besteht nur ein schmaler Grad. Vor allem auch live wird das bei einer so unterstellt schweren Musik wie der ihren im Falle einer Form ohne strikte Vorgaben nur allzu deutlich. Hier versucht jemand trotz aller historisch übermächtiger Vorbilder eine originäre Sprache zu finden, die sich von ihrem fulminanten Debüt aus 2001 bis herauf zu diesem aktuellen Meisterwerk konsequent ihre eigenen Grenzen ausforschend weiterentwickelt. Feig sein gilt nicht!

Radikal im Wortsinn, also das oder die Probleme bei der Wurzel packend ist die Musik Scout Nibletts; gleichzeitig so rein und verfremdet und faszinierend ehrlich in ihrer hybridhaften Konzentration auf wesentliche Inhalte, dass dies natürlich auch jederzeit als abschreckendes Beispiel für plattitüdenhafte Ranschmeiße an ein imaginäres und deshalb sehr wohl existierendes Publikum herhalten könnte. Dieses muss dann nach 50 Jahren Beschiss im Rock'n'Roll noch immer für Begriffe wie jenen der ominösen "Wahrhaftigkeit" gerade stehen.

Allerdings deuten Nibletts Antworten auf Interviewanfragen bezüglich ihrer musikalischen Einflüsse nicht etwa alle Zeichen auf Sturm. So befragt antwortet sie bestimmt wie folgerichtig schlüssig: "Oldies wie Soul-Acts im Sinne von Irma Thomas, Otis Redding, The Shirelles. Schwerer, bluesgetränkter Rockstoff von Danzig, Nirvana, Kyuss, Metallica, Samhain und Soundgarden. Der Folkrock von Richard und Linda Thompson. Und früher: ZZ Top." Dazu noch: der gebrechliche wie zerbrechliche und tatsächlich verrückte Autoren-Akustik-Punk eines Daniel Johnston, in der Mitte von Nick Drake und Nick Cave.

Wer die Sensationen des Gefühls abseits der großen Hauptschlagadern des Pop immer schon an den äußeren Rändern suchte, Leute, das ist eure Musik! Scout Niblett ist eines der ganz großen Talente in einem erheblich abgearbeiteten Genre. Jede Platte von ihr kann immer nur besser werden. Weil es nicht um die Entdeckung neuer Welten, sondern um die Erforschung der unmittelbaren Umstände in der Nachbarschaft geht. Eines sollte man aber in diesem Zusammenhang schon haben: Zeit. Insofern ist das alles keineswegs zeitgemäß, was wir da hören. Das ist außerhalb der Zeit. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.6.2005)