Gibt es so etwas wie das zweite Gesicht? Ich weiß es nicht, möglich wäre es, allerdings hätte
ich nie gedacht, dass mir selber eines widerfahren könnte. Also es geschah gestern, nein,
vorgestern, als die Börse schlecht war. Saß ich da ganz normal vor dem Fernseher, sah die
ganz normalen Negativ-Nachrichten, die Reihe von Katastrophen, die uns anscheinend
erfreuen sollen, als ein Licht erschien. Ich dachte, was ist das, ein blaues Leuchten, eine
Erscheinung: Angela Merkel.
Man verstehe mich recht, ich spreche nicht vom Helligkeitswert, jedenfalls nicht von einem
sichtbaren, eher umgekehrt, wenn ich mich verständlich machen soll - was nicht einfach
werden wird.
Da sitzt man nun auf dieser absoluten Oberfläche und denkt nichts Böses, in diesem Zeitalter,
das sowieso kein Wunder mehr zulässt. Es sei denn, besonders fein ausgeklügelte, etwa Viren
im Computer. Lebt da zwischen Hohn und Neid, falschen Versprechungen und Missbrauch, ich
persönlich zwischen Bananenbäumen von Tengelmann, die mir in meiner sechzig
Quadratmeter großen Wohnung kaum noch Platz zum Wohnen lassen. Und da wird (kommt)
plötzlich hereinprojiziert: Angela Merkel.
Auf dem Bildschirm eher ein bisschen Jungfrau, anständig, mutig, etwas scheu und sehr, sehr
zart. Ein Gesicht, das es eigentlich nicht mehr so recht gibt, dachte ich, vor meinem
allabendlichen TV sitzend, also mehr oder weniger zynisch, als mich plötzlich ein weit
entferntes Zeitalter anblickte: Die Jungfrau von Orleans. Plötzlich und ganz unvorhergesehen.
Kann man sich heutzutage noch elementar angerührt fühlen? Möglicherweise, irgendwie ja,
nur hätte ich nicht gedacht, dass ausgerechnet mir so etwas geschehen sollte. Ich weiß nicht,
warum es bisher noch niemandem aufgefallen ist - mir auch noch nicht: Das Mädchen steht
doch da in einer blaueisernen Rüstung, zum Tode entschlossen! - Eine offensichtliche
(sichtbare) Tatsache?
Im Glauben stark, in Treue fest
Es stimmt auch sonst alles ganz genau: Sie stammt aus diesem Dorf, weit im Nordosten, aus
dieser geduckten Pfarrhütte stammt sie, ein einfaches (einfältiges) Mädchen, ich will nicht
sagen schön, aber weißhäutig nobel und von keinem Mann berührt. Sie hat die Stimme
vernommen, leise erst, woraufhin sie sich im kleinen Kreis bekannte, dann mit Macht, nach
vorn eilend zu den ganz Großen, im Glauben stark, in Treue fest (in Trov fast). Kein Zweifel.
Vor allem aber, weil sie ganz genauso aussieht, also da kann mir keiner etwas vormachen, sie
sieht genauso aus! Todernst, gelegentlich sogar etwas missgelaunt, was angesichts der
Katastrophe durchaus verständlich erscheint, auf bleichem Schlachtfeld. Vielleicht, dass man
in der Kleidung noch etwas mehr Strenge walten ließe - insbesondere was die spätere, die
Kerkerzeit angeht. Aber die Frisur stimmt nun wirklich ganz genau, das lässt sich ja wohl
anhand authentischer Darstellungen belegen, der etwas starre Helm, der sich ja nach
Windrichtung rechts oder links teilt: Frankreich retten! Im Sturm aufrecht, vom Volksglauben
getragen!
Nicht, dass ich Frankreich für verloren hielte, davon sind wir, glaub ich, noch ein Stück
entfernt, doch die Richtung will sagen, die Abwärtsrichtung ist doch wohl deutlich erkennbar.
Wenn sich nun auch noch die Verlässlichsten, die von jeher Beharrlichen, die sich ihre
Beharrlichkeit groß auf die Fahne geschrieben haben, als unbeharrlich erweisen. Man denke.
Als unverlässlich! Wo ist denn da noch Rettung zu erwarten, und bei wem?
Ich plädiere auf Wiedergeburt.
Allerdings wäre da noch das, immerhin vorgegebene, Ende zu bedenken. Wie - bei allem
Sendungsbewusstsein, bei allem Gottesglauben - will sich denn dieses zarte Geschöpf
behaupten, falls man sie da ganz oben hinstellte. Ganz hoch auf dem Hauklotz, und unter
Androhung von Zange, Schraube, und Kohlenfeuer. Die Antwort dürfte lauten: Mit dem
Gottesglauben. Aber ob der im Zeitalter der totalen Verdrahtung noch ausreicht?
Ich fürchte, wir werden einer Verbrennung entgegensehen.
Ernst Augustin
, Schriftsteller und Psychiater, lebt in München (Erstabdruck: SZ, 11.4.)