Das "europäische Wirtschafts- und Sozialmodell" steht in Diskussion. Tony Blair will es in Richtung eines wirtschaftsliberalen Modells verändern, auch zahlreiche US-Autoren heben teils verächtlich, teils mit widerwilliger Bewunderung die Unterschiede zum amerikanischen Modell hervor.

Aber was heißt das überhaupt, "europäisches Modell"? Grob vereinfacht und leicht polemisch: besser leben, ohne genau zu wissen, wie lange das noch geht. Die USA sind insgesamt reicher als die EU, aber ihre Bürger leben in ihrer großen Masse keineswegs besser. Jeder, der die USA einigermaßen bereist hat, stellt in vielen Gebieten Dritte- Welt-Verhältnisse fest.

Der durchschnittliche europäische Arbeitnehmer lebt, gesamthaft gesehen, besser als der durchschnittliche amerikanische. Das beginnt damit, dass über 40 Millionen US-Amerikaner keine Krankenversicherung haben, und endet bei einem Lebensstil, der sich auf besseren Naturschutz, betretbare und anregende Innenstädte, niedrigere Kriminalität usw. verlassen kann. Tatsächlich ist das "europäische Modell" eher ein "Lebensmodell" (ein Ausdruck, den Außenministerin Ursula Plassnik schätzt), sogar ein "Besser- leben-Modell".

Der Vorzug des amerikanischen Modells liegt in seiner Dynamik. Allerdings deuten verschiedene Daten darauf hin, dass der "amerikanische Traum" der "upward mobility" nicht mehr stimmt: Die Unterklasse steigt nicht auf, die Mittelschicht verliert, die Reichen stagnieren, nur die Superreichen gewinnen – durch die absurden Steuersenkungen von Bush.

Das amerikanische System produziert immer noch höheres Wachstum, aber es ist mindestens so reparaturbedürftig wie das europäische – unter anderem, weil es China und Japan nicht ewig durch den massenhaften Kauf von US-Schuldverschreibungen finanzieren werden. Blairs England ist nicht so "amerikanisch" wie man meint, aber der Unterschied zum Kontinent ist doch auffällig. Auf der Insel herrscht noch immer eine Klassengesellschaft, die sozialen Leistungen (besonders Gesundheit) können sich mit den kontinentalen nicht messen. Für viele deutsche, italienische, französische, niederländische, österreichische Arbeitnehmer wären britische Verhältnisse eine Zumutung.

All das ist wunderbar, aber wie lange hält es? Es gibt kein Patentrezept, nur eine Fülle von Maßnahmen, die man wirklich umsetzen müsste: Korrekturen am Sozialstaat, aber keine Rosskur und keine Totalprivatisierung (die Firmenpensionen von Millionen Amerikanern wurden durch die Börse ausgelöscht); intensive Investitionen in Wissenschaft und Forschung, um den Produktvorsprung zu halten; Abbau unproduktiver Bürokratien; moderate Flexibilisierung des Arbeitsrechts (in Österreich de facto schon im Gang).

Es kann sein, dass das alles nichts hilft. Es ist aber nicht wahrscheinlich. Entscheidend wird sein, ob dieses moderate Maßnahmenbündel politisch umgesetzt werden kann. Um das zu erreichen, darf man nicht den Fehler der Reformprediger machen: "Ihr müsst euch der Globalisierungspeitsche beugen; ihr müsst die meisten sozialen Errungenschaften aufgeben, um mit den Asiaten mithalten zu können; ihr müsst euch der Härte des Marktes unterwerfen!" Das bringt nichts außer Widerstand. Wichtig wäre ein klares Bild: "Das und das ist notwendig, um Europas Besser-leben-Modell im Großen und Ganzen zu erhalten. Wir bieten euch ein positiv formuliertes Ziel und nicht Unsicherheit und ständig wechselnde Rahmenbedingungen." (DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.06.2005)