Kein Zweifel: "Hier entsteht ein urbanes Zentrum!" - Der "add on"-Turm auf dem Wiener Wallensteinplatz.

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Wie schön: Wien hat seit Kurzem einen Roten Platz. Er liegt im 20. Gemeindebezirk und heißt immer noch Wallensteinplatz, sieht aber neuerdings so erfrischend anders aus.

Die inoffizielle Umbenennung verdankt sich vor allem zwei Ingredienzien seiner offiziellen Umgestaltung: Einem roten Ziegelbelag, der nachts von einer Flutlichtanlage taghell erleuchtet wird. Und einem von den Wiener Verkehrsbetrieben errichteten roten Kubus - offenbar Wiens architektonische Antwort auf das Lenin-Mausoleum -, der wohl nur vorderhand verkehrstechnischen Zwecken dient ...

Wer sich darob und über die Unzahl mühsam gefugter weißen Linien, die das Ziegelrot sternförmig strukturieren, verwundert die Augen reibt, und beispielsweise die Frage stellt, in welcher Beziehung diese Gestaltung mit den wenigen Bürgerhäusern des Bezirks aus der Jahrhundertwende stehen, die den Platz an drei Seiten abschließen, bekommt von den Bezirkspolitikern eine unmissverständliche Antwort: Hier entsteht das urbane Zentrum des 20. Bezirks!

Wie diese von der Stadtpolitik verordnete Urbanisierung (die Platzgestaltung wurde ohne Rücksicht auf Anrainer wünsche - etwa nach mehr Grün - umgesetzt) in der Praxis aussieht, davon kündet seit vergangenem Freitag ein für sechs Wochen anberaumtes Livemusik-Festival, zu dessen Hauptattraktionen eine Open-Air-Disko zählt.

Einblicke

Und damit die Love-Parade-Szene bei ihrer Verlegung auf den Wallensteinplatz auf optische Anreize nicht verzichten muss, wurde auch ein Kunstwerk in Gestalt eines Bühnenturms errichtet, der aus 20 Metern Höhe Einblicke in die Wohnverhältnisse und alltäglichen Verrichtungen der dort lebenden Menschen verspricht. (In Graz, wo diese Kunstaktion im Kulturhauptstadtjahr bereits einmal unter massiven Protesten der Anrainer durchgeführt wurde, war der Turm mit einem Fernrohr bestückt - zur besseren Einsicht ...)

Wir lernen: Damit ein öffentlich finanziertes urbanes Zentrum entsteht, braucht man nach Vorstellung der Stadt- und Bezirksväter vor allem zwei Elemente der industriellen Massenkultur:

Baustein Nr. 1: der voyeuristischen Blick ins Private, den das Fernsehen schon vor geraumer Zeit in ein bildmächtigen "Format" verwandelt hat, und der nun hier in den öffentlichen Raum übertragen wird. Entscheidender Unterschied: Während die Darstellung des privaten Lebens im TV noch überwiegend auf der freiwilligen Teilnahme an einschlägigen Sendungen beruht, wird sie hier von Amts wegen den ein paar Meter vom Aussichtsturm entfernt lebenden Anrainern aufgezwungen.

Baustein Nr. 2: Partys. Die Bürgerbeteiligung am Projekt besteht somit - außer den Blicken durchs Fernrohr - im wesentlichen aus Abtanzen und einem Ausbildungsangebot für Möchtegern-DJs, wie dies ansonsten vor allem private Radios zur Hörermobilisierung praktizieren.

Abgesehen von der Frage, wie Anrainer wohl über die Zumutbarkeit eines allabendlich zwangsverordneten Musikprogramms denken - und auch über die Notwendigkeit, DJs und Open-Air-Partys aus Steuermitteln zu finanzieren: Welche Botschaft wird hier eigentlich von den Wiener Kulturverantwortlichen in Stadt und Bezirk den Bürgern vermittelt?

Ausblicke

Der Hybrid aus architektonischen Versatzstücken der pseudosozialistischen Retro-Moderne mit Eventkultur bringt das Elend der sozialdemokratischen Politik im urbanen Raum auf den Punkt: Sie glaubt, die verloren gegangenen Massen - es ist ja schließlich Wahlkampf in der Stadt - wieder an sich binden zu können, indem sie (unter begeisterter Anteilnahme des auflagenstärksten Kleinformats, das wohl durch die versprochenen Einblicke angelockt wird) Publikumsattraktionen der elektronischen Massenmedien einfach in den öffentlichen Raum transponiert.

Der Wiener Rote Platz symbolisiert ao die Hoffnungen einer sich als modern missverstehenden Kulturpolitik, die offenbar ihre Aufgabe darin sieht, die letzten Differenzen zwischen elektronischem Kommerz und dem, was einmal unter urbanem Leben als Ausgangspunkt von Demokratie verstanden wurde, durch zudringliche Nähe dem Blick zu entziehen bzw. unter einen Soundteppich zu kehren.

Man könnte es die McDonaldisierung des Urbanen nennen - ist es doch auch der sehnlichste Wunsch des Bezirksvorstehers, die Modernisierung des Bezirks durch den Bau einer Fastfoodfiliale auf dem Platz zu krönen ... (DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.06.2005)