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Kazunori Yamauchi ist der erfolgreichste Fahrlehrer der Welt. Mehr als 40 Millionen Menschen haben bei ihm gelernt, ein Auto durch die Straßenschluchten Tokios zu steuern, möglichst schnell natürlich. "Starten Sie den Motor", lautet der erste Tipp, aber da ist kein grauhaarig-gemütlicher Kerl auf dem Beifahrersitz eines VW Golf, nur ein paar gelbe Buchstaben auf dem Bildschirm. Yamauchi, der Erfinder des Rennspiels "Gran Turismo", verlangt keine langweilige Theorieprüfung und Sicherheitstests. Seine Didaktik: Lernen durch Spielspaß.

Das erfolgreichste Rennspiel aller Zeiten

"Grand Tourismo" - seit ein paar Monaten bereits in der vierten Version auf dem Videospiel-Markt - ist das erfolgreichste Rennspiel aller Zeiten. "Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Spiel und Straßenverkehr", sagt Yamauchi, "bei uns fehlt die Gefahr." Schon klar. Aber die Autospiele der letzten Generation wie "GT 4" oder " Midnight Club 3" sehen so realistisch aus und vermitteln den kinetischen Kitzel so glaubwürdig, dass man sich über einen Lerneffekt nicht wundern würde.

Nur noch optische Korrekturen?

Das virtuelle Autorennen hat eine lange Tradition. Trotzdem bezeichnet der Autor Stephen Poole das Rennspiel als "einziges nostalgiefreies Genre". Die Fans von Abenteuer- oder Strategiespielen beschweren sich oft, dass die Industrie nur noch optische Korrekturen vornehme und keine spielerischen Quantensprünge wie "Tetris" oder "Legend of Zelda" mehr hervorbringe.

Mehr Power

Im Rennspiel-Genre aber war früher keinesfalls alles besser. 1976 brachte Atari das Spiel "Night Driver" auf den Markt, und das sah so aus: eine Motorhaubenschablone in der Bildmitte, die man durch eine Allee von Pixel-Pollern lenken musste. Auch die Autofans der Videospielkultur sind also technikgläubig: Je mehr Power die Konsolen unter der Haube haben, desto schneller und realistischer das Fahrerlebnis.

Totalschaden, Schwerkraft und Straßenverkehrsordnung bleiben im Alltag zurück

"Gran Turismo" ist ein virtuelles Automobilmuseum. 650 Autos aus den Jahren 1886 bis 2005 haben die Entwickler in die Garage des Spielers gestellt - 500 Fotos wurden dafür von jedem Modell gemacht, mit Mikrofonen das Motortuckern aufgenommen und Originalbaupläne studiert. Das Wichtigste aber ist nicht der "Look", sondern das "Feeling" eines Autos. Verantwortlich dafür sind komplexe Programmroutinen, welche Fliehkraft, Friktionen und Luftwiderstand für jedes Auto und Fahrverhalten berechnen. "Realismus kann für den Spielspaß auch unvorteilhaft sein", meinte Yamauchi einmal in einem Interview. Und deshalb muss man bei "GT 4" nicht nachtanken, und ein Unfall bei Tempo 200 zerlegt das Auto auch nicht in tausend Teile. Totalschaden, Schwerkraft und Straßenverkehrsordnung bleiben im Alltag zurück.

"Komm als Erster ins Ziel"

Das Autorennen ist der idealtypische Gegenstand des Videospiels. Schließlich folgt es dem einfachsten Spielprinzip überhaupt: "Komm als Erster ins Ziel." Außerdem sind sich virtuelle und reale Fahrsituation so unähnlich nicht: In beiden Fällen blickt man auf eine Glasscheibe, steuert eine Maschine und möchte sein Ziel erreichen - ohne Rücksicht zu nehmen. Vielleicht sind es auch diese Analogien, welche den Cyber-Piloten so stark in das Renngeschehen einbeziehen. Man vergisst, dass man nicht an einem Lenkrad sitzt, sondern das Auto mit abstrakten Tastenkombinationen auf dem Joypad steuert. Denn die eigentliche Immersion in das Rennen erfolgt über die Augen, durch das rasende Straßenbild, den Seitenstreifen, die Ideallinie, kaum erkennbar, als Kautschukspur auf dem Asphalt.

Spektakulär

Die Blicke aus der Windschutzscheibe sind bei "GT 4" spektakulär. Die Staubschleier, Lichtreflexionen und Oberflächentexturen erzeugen dabei einen derart pittoresken Fotorealismus, dass man bei der wilden Jagd über den Sunset Strip oder die Gebirgsstraßen des Grand Canyon schon einmal die nächste Kurve vergisst - wegen des Sonnenuntergangs. "Mit zunehmender Beschleunigung", schreibt der französische Fotograf und Philosoph Paul Virilio, "wird das Reisen zum Filmen. Es erzeugt nicht mehr Bilder als vielmehr unglaubliche und übernatürliche Erinnerungsspuren".

Eros von Motor und Metall

Vielleicht hat Kazunori Yamauchi ja ein wenig in Virilios Buch "Fahren, Fahren, Fahren" geblättert - auf jeden Fall ist Filmen und Fotografieren bei "GT 4" ein fester Teil des Spiels. Im so genannten "Photo Mode" steuert der Spieler nicht mehr das Auto, sondern eine virtuelle Kamera - und kann die 650 Autos vor der Brooklyn Bridge inszenieren und sich ganz dem Eros von Motor und Metall hingeben. Bei der Herstellerfirma heißt es: "Das Rennen ist nur ein Teil einer viel breiteren und befriedigenderen automotiven Erfahrung."

Fahren ist immer auch Zeigen

Natürlich kann man die Fotos "seines" Autos auch per E-Mail an einen Freund schicken. Was zeigt, dass das Videospiel neben dem Geschwindigkeitswahn noch ein weiteres Gesetz der automobilen Kultur verinnerlicht hat: Fahren ist immer auch Zeigen. Man möchte bewundert werden und nicht in der Anonymität des Straßenverkehrs untergehen und kämpft deshalb mit Fuchsschwänzen, Aufklebern und Auspuffbatterien gegen die Unsichtbarkeit an. Das Grundprinzip des Rennspiels heißt nicht mehr allein: Wer ist der Schnellste? Man fragt sich auch: Wer ist der Schönste? "Dein Fahrzeug bringt dich nicht nur von Punkt A nach Punkt B", heißt es zum Beispiel in der Spielanleitung von "Midnight Club 3", "es ist dein ganzer Stolz und drückt deine Persönlichkeit aus."

Cyber-Version der MTV-Show "Pimp my Ride"

"Midnight Club" ist die Cyber-Version der MTV-Show "Pimp my Ride", in der die Individualisierung des Motors auf die Spitze getrieben wird. Mit tausenden von Teilen kann man in dem Spiel die Standard-Karosserien aufmotzen und so den Rappern in ihren Stretch-Karossen Konkurrenz machen. "Zeig den Leuten dein fahrerisches Können und deinen Traumschlitten", wirbt das Spiel für den Online-Modus, in welchem die Spieler nicht nur Rennen fahren können, sondern auch mit ihren getunten Karren angeben und Rennställe gründen können: mit der Online-Opel-Gang durch das riesige (Straßen-)Netzwerk des Internets cruisen, ohne das Wohnzimmer je zu verlassen. Paul Virilio schreibt: "Je schneller wir wer- den, desto mehr treten wir auf der Stelle." (Der Standard Printausgabe, Rondo, Tobias Moorstedt)