Immer wieder beklagen Menschenrechtsorganisationen den leichtfertigen Umgang mancher Gerichte mit der Verhängung der U-Haft. Im Fall eines 40-jährigen Asylwerbers, der wegen Diebstahls einer Parfümflasche im Wert von 12,9 Euro in Wien neun Wochen in U-Haft saß, kommt die Kritik aus den eigenen Reihen und zugleich von höchster Stelle: Der Oberste Gerichtshof (OGH) stellt im druckfrischen Urteil 13 Os 46/05x fest, dass der Mann dadurch im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.

Dschamschid S. wurde am 24. Februar 2005 von einem Kaufhaus-Detektiv beim Diebstahl eines Fläschchens der Marke "Naomi Campell" ertappt. Durch Schläge und Tritte soll er versucht haben, sich "die weggenommene Sache zu erhalten", wie die Behörden festhielten. Am 26. Februar wurde über ihn wegen Verdachts auf räuberischen Diebstahl die U-Haft verhängt. Begründet wurde das mit Fluchtgefahr.

Keine einschlägigen Vorstrafen

Der aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Mann lebt allerdings seit September 2003 in einem Flüchtlingsheim der Caritas und ist dort auch ordentlich gemeldet. Er weist keine einschlägigen Vorstrafen auf. Seine drei halbwüchsigen Kinder besuchen in Wien die Schule, "so dass von Fluchtgefahr wohl nicht die Rede sein kann", wie der OGH in seiner Entscheidung klar und deutlich feststellt.

Dschamschid S. hielt die getroffene Maßnahme deshalb auch für unangemessen und brachte eine Haftbeschwerde ein. Er blitzte damit allerdings am 31. März beim Oberlandesgericht (OLG) insofern ab, als man dort dem Straflandesgericht auftrug, einen Beschluss zu fassen, den Mann gegen Kaution bzw. Gelöbnis bis zur Hauptverhandlung zu entlassen. Im Übrigen wurde darauf verwiesen, dass die Haftfrist am 31. Mai 2005 ende.

Grobe Rechtsverletzung

"Auch wenn die Fortsetzung der Untersuchungshaft solcherart nicht ausdrücklich angeordnet wurde, ist die Entscheidung als Fortsetzungsbeschluss aufzufassen", stellt dazu der OGH zunächst fest. Und das war eine grobe Rechtsverletzung, wie der Senat (Vorsitz: Vizepräsident Konrad Burstbauer) dann in ungewöhnlicher Deutlichkeit ausführt.

Die mit dem Fall betrauten Gerichte hatten schlicht den Par. 180 Absatz 3 Strafprozessordnung (StPO) "übersehen": Nach dieser Vorschrift ist Fluchtgefahr dann nicht anzunehmen, wenn der Beschuldigte einer Straftat verdächtig ist, die nicht strenger als mit fünf Jahren Haft bedroht ist, er sich in geordneten Lebensverhältnissen befindet und einen festen Wohnsitz im Inland hat, es sei denn, dass er bereits Anstalten zur Flucht getroffen hat.

Für Dschamschid S. wäre diese Bestimmung anzuwenden gewesen, zumal der Strafrahmen des ihm vorgeworfenen Delikts bei fünf Jahren endet. Dass das OLG die Annahme der Fluchtgefahr wörtlich damit begründet hatte, "weil der Angeklagte als Asylant in Österreich sozial nicht integriert ist und seinen eigenen Angaben zufolge flüchten wollte", hält der OGH für völlig unangebracht: Sich der Anhaltung durch den Detektiv zu entziehen zu versuchen, sei noch lange nicht dem Versuch gleichzusetzen, sich auch dem Strafverfahren entziehen zu wollen.

Unverzügliche Enthaftung

Der OGH, der am 4. Mai mit der Grundrechtsbeschwerde verfasst worden war, ordnete noch am selben Tag die unverzügliche Enthaftung des Familienvaters an: Eine noch länger andauernde U-Haft "stünde zur Bedeutung der Sache außer Verhältnis", heißt es im Urteil.

Damit nicht genug: Die Höchstrichter rügen das Straflandesgericht auch noch wegen Missachtung des so genannten Beschleunigungsgebotes. Das Strafverfahren gegen den damals schon beinahe zwei Monate einsitzenden Dschamschid S. war am 18. April zur Vorführung eines Zeugen auf Ende Juni vertagt worden, "was den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes zuwiderläuft", so der OGH.

Der Prozess gegen den 30-Jährigen soll am Mittwoch, zu Ende gehen. (APA)