Foto: Regine Hendrich

Wien - In Brasilien wird er gerne als "Brujo", der Hexer, apostrophiert. Wobei in diesem Titel neben Respekt auch eine Tendenz zur Mystifikation mitschwingt, eine Seite, die Hermeto Pascoal selbst durch sein Äußeres unterstreicht: Gleich einem Alchimisten umweht langes Bart-und Haupthaar sein Gesicht, aus dem heraus zwei wache Augen die Welt beobachten. Als Vaterfigur der brasilianischen Jazzszene verkörpert der 69-jährige die wohl organischste Verbindung zwischen Tradition und avanciertem Konzeptdenken, die die Improvisationsmusik bis dato hervorgebracht hat.

Was damit gemeint ist? Endlose, von bizarren Intervallsprüngen strotzende Unisono-Amokläufe, die von aus dem Choro abgeleiteten Grooves packend strukturiert werden. Sich unorthodox kreuzende Kontrapunkt-Linien. Und mittendrin ein bellender Hund oder eine Sprachzuspielung vom Band, deren Impulse improvisatorisch weiter verarbeitet werden: Ausschnitte aus dem Pascoal'schen Musikuniversum, die an europäische Einflüsse denken lassen. "Nein, Strawinsky, Hindemith oder auch Charles Ives habe ich nie gehört", wehrt Pascoal ab. "Ich denke, das hat damit zu tun, dass ich im Hinterland von Alagoas im Nordwesten Brasiliens aufgewachsen bin. Es gab dort keine Elektrizität, kein Radio. Stattdessen habe ich den Vögeln, den Tieren auf unserem kleinen Bauernhof gelauscht. Und habe selbst angefangen, mit Dingen meiner Umgebung Sounds zu erzeugen. Ich habe die Musik der Natur gehört."

Bis zu seinem 40. Geburtstag habe er sich rein autodidaktisch und nur dem Gehör nach seine Klang-Welt erschlossen. Erst dann habe er sich Theoriekenntnisse angeeignet - womit "die Musik nur so aus mir herausfloss, die ich bis dahin im Kopf hatte. Oft fielen mir im Bus, auf dem Weg zum Club, in dem ich abends spielte, Melodien ein. Um sie nicht zu vergessen, musste ich sie singen, immer wieder. Der Busfahrer kannte mich schon, er sagte, ich solle mich nach hinten setzen, dort würde ich nicht stören. Angekommen im Club, setzte ich mich ans Klavier und spielte den Musikern vor."

Nahe liegend, dass einer wie Pascoal zeit seines Lebens heimatverbunden geblieben ist. Als ihn Miles Davis 1970 zur Einspielung des Albums Live-Evil engagierte, da hielt es Pascoal nicht lange in New York. Trotzdem sich der Trompeter vom "Crazy Albino" begeistert zeigte. Und dem Studiotermin ein Angebot folgte, als zweiter Pianist neben Keith Jarrett Teil der Band zu werden. Pascoal lehnte dankend ab: "Meine Inspirationsquellen liegen in Brasilien. Deshalb bin ich zurück gegangen. Zudem war ich damals gerade dabei, eine neue Band zu gründen. Das Interessante ist, dass meine ,Grupo' ja bis heute existiert, und zwei Musiker seit Anfang an dabei sind."

Tatsächlich halten Bassist Iteberê Zwarg und Schlagzeuger Márcio Bahia ihrem Meister seit über 30 Jahren die Treue. Obwohl oder gerade weil dieser sie noch immer zu täglichem Proben anhält. Was längst ein brillant eingespieltes Ensemble gezeitigt hat, wie man sich im Porgy überzeugen konnte. Ein Septett, das sich süffigem, raffiniert gestricktem Latin-Jazz hingab - so nicht Pascoal, an Melodika und Keyboard zugegen, ein Solo auf einem Wasserglas intonierte. Was ihn, der statt eines Kulturministers Gilberto Gil in Brasilien lieber einen "Musikminister" nicht-kommerzielle Klänge fördern sähe, nach all den Jahren, nach all den Reisen, heute noch antreibt? "Die Musik ist immer um mich, beim Schlafen, beim Träumen. Sie ist für mich eine intuitive Sache, fließt aus mir heraus. In Zukunft hoffe ich, dass die Menschen nur mehr von einer universalen Musik sprechen. Und sie nicht mehr in Stile unterteilen." (Andreas Felber/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. 6. 2005)