Genau 46 Tage sind es noch, bis Israel einen enormen psychologischen Schritt tut. Am 15. August soll der Abzug der 1700 Siedlerfamilien aus dem Gazastreifen beginnen. Die Armee wird deren Häuser zerstören und ebenso die großen Treibhäuser für den Obst- und Gemüseanbau, sollten sich für Letztere nicht noch Käufer finden. Es ist das erste Mal seit der Staatsgründung 1948, dass Israel Siedlungen auf einem Territorium aufgibt, das viele Israelis als ihr eigenes verstehen - der Abzug aus dem ägyptischen Sinai 1979 gilt deshalb als Sonderfall.
Doch die kritische Phase, die über Gelingen oder Scheitern des historischen Gaza-Abzugs entscheidet, hat bereits begonnen. Die Regierung von Ariel Sharon hat den militanten Siedlern - und damit einem sehr kleinen, aber lautstarken Teil der Gesellschaft - den Kampf erklärt.
Das Schreckgespenst einer Revolution geistert in diesen Tagen durch die Köpfe vieler Israelis: Die Armee könnte sich gezwungen sehen, auf Siedler zu schießen, die mit Waffengewalt den Gaza-Abzug verhindern wollen; Befehlsverweigerungen in den Reihen der Soldaten greifen um sich; 200.000 Siedler aus dem Westjordanland tragen ihren Protest in Israels Großstädte.
Fest steht nur, dass die anfängliche breite Zustimmung in Israel zum Gaza-Abzug im Schwinden ist. Das liegt vor allem an zwei unbeantworteten Fragen: Was gewinnt Israel tatsächlich mit dem Abzug aus dem Gazastreifen? Und: Was hat den "Falken" Sharon, einen Kriegsmeister durch vier Jahrzehnte, zu seinem bemerkenswerten Gesinnungswandel bewogen? Dass ausgerechnet Ariel Sharon, der "Bulldozer", wie er wegen seines politischen Stils genannt wird, ankündigt, Rhetorik und Handlungsweise rechtsextremer Siedler "auszurotten", scheint nur auf den ersten Blick als Ironie. Sharon handelt als alter Militär, der eine Position - den Gazastreifen - aufgibt, um möglicherweise andere, wichtigere - im Westjordanland - zu behalten. (DER STANDARD, Printausgabe, 1.7.2005)