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Das Plakat, mit dem nach der vermissten Polin Karolina Gluck gesucht wird.

Foto: AP Photo/Jane Mingay

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Händehalten am U-Bahnhof von King's Cross als Zeichen der Trauer für die Opfer und der Verbundenheit gegen den Terror.

Foto: AP/Pitarakis

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Eine Frau mit Kopftuch legt - ebenso wie hunderte andere Passanten - Blumen für die Opfer des Terroranschlages an der U-Bahn-Station King's Cross nieder.

Foto: EPA/DANIEL DEME
Sonst wollte einen die Reklame am Bauzaun immer dafür begeistern, eine Flasche Vitaminlimonade zum halben Preis mitzukaufen, wenn man irgendein Magazin erwirbt. Oder Trauben-Nuss-Schokolade, um zwei Drittel verbilligt. Und jetzt lächelt einen dort ein Frauengesicht an.

Karolina, 1,60 groß, blonder Bubikopf, 29, eine Polin aus Chorzow. 2001 kam sie nach London. "Immer noch vermisst", steht mit drei Ausrufezeichen unter dem körnigen Schwarz-Weiß-Foto. Wer was wisse, möge bitte Richard kontaktieren. Oder Magda oder Jack oder Sam oder die polnische Botschaft. Karolina müsste ein Handy bei sich tragen, mit fallenden Herbstblättern als Bildschirmschoner. Und ein Schlüsselbund, geschmückt mit dem Logo der Londoner Olympiabewerbung für 2012. Ein harmloses Detail, das plötzlich wie grausamer Hohn klingt.

Fahrt in den Tod

Karolina Gluck wird sicher gejubelt haben, als London am Mittwochmittag die Spiele bekam. Am Donnerstagmorgen fuhr sie, so muss man es nun befürchten, in ihren Tod. Am Finsbury Park stieg sie in einen U-Bahn-Wagon der Piccadilly Line, wahrscheinlich genau in den Wagon, in dem hinter King's Cross eine Bombe hochging. Sie wollte zum Russell Square, um ihren Job zu machen, an der Rezeption eines Internats für Studenten.

Das Letzte, was ihr Freund Richard Deer von ihr hörte, war ein fröhliches "Seh dich später". Seitdem hat er alles versucht, hat ihr Mobiltelefon angeklingelt, SMS-Nachrichten getextet, E-Mails verschickt. Nichts, keine Antwort. "Dreimal hab ich die Polizei angerufen", erzählt Richard. "Immer meinten sie, sie wüssten noch nichts. Ich hab ihnen gesagt, ich würde so lange anrufen, bis ich blau im Gesicht werde."

Auch Ojara Ikeagwu wird vermisst, auch Mike Matsushita, auch Phil Beer. Ojara Ikeagwu, 55, dreifache Mutter, war Sozialarbeiterin im Stadtteil Hounslow. Das Foto zeigt sie mit Doktorhut. Mike Matsushita, 37, Sohn vietnamesischer Flüchtlinge, aufgewachsen in den USA, war seit einer Woche Londoner Reiseführer.

Die Bilder der zwei - und viele, viele mehr - kleben an dem blauen Zaun, der einem seit Monaten in King's Cross den Weg versperrt. Das Bahnhofsviertel im Norden der Stadt, früher Rotlichtviertel und Drogentreff, ist eine einzige Baustelle. Eine türmchengekrönte Märchenburg, hinter der sich die benachbarte St. Pancras Station verbirgt, wird von Grund auf renoviert. "King's Cross - schaut noch mal hin!", steht auf einem Poster. Jetzt liegen dort, wo sonst die Pendler in die Schächte der "Tube" hasten, unzählige Blumen. Was das Gitter des Kensington-Palasts nach dem Tod von Prinzessin Diana war, das ist nach den Anschlägen des 7. Juli der Bahnhof King's Cross. Ein Schrein der Trauer.

"Sinnlos!", schrieb jemand auf ein Blatt Papier und band es an einen Tulpenstrauß. Daneben ein Gedicht: "Wenn ich euch für eine Weile verlassen muss, bitte, grämt euch nicht, vergießt keine heißen Tränen." Familie Davidson aus Newcastle notiert auf ihrer Widmung: "Was sie (die Terroristen) erreichen wollen, wissen wir nicht. Was sie wirklich erreichen, ist, dass sie Britannien in Schmerz und Abscheu einen." Ein paar Schritte weiter, vor der Kirche Sankt Pancras, noch ein Zettel: "Gestern sind wir aus dieser großen Stadt geflohen, aber heute laufen wir zurück in eine noch stärkere, noch größere Stadt."

30 Meter tiefer, im Tunnel zwischen den Stationen King's Cross und Russell Square, liegen noch immer Tote. Darüber, am Blumenschrein, sprechen die Lebenden einander Mut zu. Der Anglikanerpfarrer Bruce Batstone meint, es sei wichtig, gerade jetzt, ein Leben der Liebe zu führen und keines des Leids. Dutzende hören ihm zu. Sie sind der beste Beweis dafür, wie wahr es ist, was Ken Livingstone, Londons Bürgermeister, sagte: Der Terrorangriff zielte auf einfache Londoner, "Schwarze und Weiße, Muslime und Christen, Hindus und Juden, Junge und Alte". Und dass seine Stadt, in der man 307 Sprachen spricht, die kosmopolitischste der Erde sei. Und dass auch nächste Woche wieder Tausende in dieser Stadt landen würden, um ein neues Leben zu beginnen, um Londoner zu werden. Man braucht die Leute am Blumenmeer nur nach ihrer Herkunft zu fragen, schon merkt man, was Livingstone meint.

Hender Pastor ist mit seinen drei Söhnen da. Pastor stammt aus Peru, vor elf Jahren zog er an die Themse, betreibt einen Kurierdienst. Er war in Madrid, nachdem dort am 11. März 2004 Züge in die Luft gesprengt wurden. Die Madrider ließen ihren Gefühlen freien Lauf, zwei Millionen versammelten sich am Tag danach im Stadtzentrum. In London ist das anders, bisher jedenfalls. Hier gibt es keine Massenkundgebungen, hier trinkt man im Pub gegen das Nervenflattern an, wettet eifriger als zuvor auf galoppierende Pferde, spielt mit noch größerer Hingabe auf gut gemähten Wiesen Cricket. Pastor bewundert die Briten dafür. "Diese ,stiff upper lip', genauso muss man es machen. Die sagen den Terroristen: Ihr könnt uns mal."

"Bisschen nervös"

Eine Szene in der U-Bahn. Ein Zug der Victoria Line, der sich King's Cross von Osten her nähert, aber dort nicht halten darf. Sieben, acht Teenager steigen in Vauxhall zu. Ein Junge läuft durch den ganzen Wagon. Er sucht. Nach Taschen, nach Rucksäcken. Eine ältere Lady schaut kopfschüttelnd zu unsereinem herüber. Ihr Blick will wohl sagen: O Gott, diese Jugend, wir haben das im Krieg alles ohne viel Aufsehen ertragen. Na ja, eigentlich mache es der Junge ja richtig, werfen wir ein, erfahren, dass die Lady Sally Hamilton heißt, und sehen, wie ihre stoische Fassade aufbricht. "Stimmt", erwidert sie, "Recht hat er, man ist ja doch selbst auch ein bisschen nervös." (DER STANDARD, Printausgabe, 11.7.2005)