Patrice Chéreau: "Wenn ich ,Così' mit zwanzig gemacht hätte, wäre das Ergebnis anders ausgefallen. Heute denke ich, es gibt auch Treue in der Untreue."

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Die Oper war unter seiner Regie heuer in Aix-en-Provence zu sehen. Olga Grimm-Weissert sprach mit ihm über Verführung und die "Schamlosigkeit" der Theaterarbeit.


STANDARD: Der Begriff der Begierde durchzieht leitmotivisch Ihre Inszenierungen, sowie auch Ihre Filme. Zuletzt hoben Sie ihn für Mozarts "Così fan tutte" beim Opernfestival von Aix-en-Provence hervor. Ganz eindeutig stand die Begierde im inszenatorischen Vordergrund Ihrer letzten Theaterinszenierung, der "Phädra" von Jean Racine.

Chéreau: Die Begierde ist selbstverständlich ein zentraler Begriff für mich, egal auf welchem Gebiet. Ich habe Phädra wegen der Kraft der Begierde, die Phädra ins Verderben stürzt, inszeniert. Ich muss allerdings sagen, dass ich Così fan tutte nicht selbst ausgewählt habe, denn für die Opernregien wird man ja meist gebeten, nachdem die Auswahl vom Direktor - in diesem Fall war es Aix-Chef Stéphane Lissner - getroffen wurde. Die Begierde ist jedenfalls aber eine zentrale Frage, weil sie das Verhältnis aller Menschen untereinander bedingt, egal, welcher Natur diese Beziehung ist.

STANDARD: Könnte man sagen, dass sie eine Art Motor ist?

Chéreau: Sicherlich. Jedenfalls ist sie der Motor meiner Arbeit. Aber auch der Grund, warum ich morgens aufstehe. Die Arbeit mit den Schauspielern und Sängern ist doch in erster Linie auf Verführung aufgebaut. Die reziprok sein muss: Ich verführe sie und will auch verführt werden. Es geht schließlich immer darum, geliebt zu werden. Das hat mit dem Körper zu tun, mit dem Gesicht, der Haut, die man natürlich im Film hautnah zeigen kann.

Die Begierde bedingt auch, dass man vor allem mit Leuten arbeitet, die man verführen kann. Regieführen ist eine Art, die Menschen zu lieben. Die Aufgabe des Regisseurs ist es, die Schauspielerleistungen zu verbessern. Dass sie Seiten in sich entdecken, die bis dahin verborgen waren und sich jetzt offenbaren. Dabei dringt man ziemlich tief in die intimen Sphären der Sänger und Schauspieler ein. Man raubt ihnen gleichsam ihre Gefühle, Ängste, Obsessionen. Das funktioniert allerdings nur mit deren Zustimmung.

Wie sie sich bewegen, das sagt schon unheimlich viel über ihre Person aus. Schauspieler oder Sänger zu sein ist ein total schamloser Beruf. Die Bühnenarbeit ist ein ziemlicher Schock für das Individuum. Sie zwingt uns, aus den verdrängten Zonen der Persönlichkeit zu schöpfen, auf die Kindheit zurückzugreifen. Als Regisseur sollte man das ohne Brutalität erreichen. STANDARD: Ihre Inszenierung von "Così fan tutte" vermittelt den Eindruck von Weisheit und innerer Ruhe. Entspricht das der aktuellen Situation in Ihrer Arbeit und Ihrem Leben? Chéreau: Wenn ich Così mit zwanzig gemacht hätte, wäre das Ergebnis natürlich anders ausgefallen. Ich befinde mich in einer ähnlichen Situation wie Don Alfonso, der weiß, dass die Liebe eine komplizierte Angelegenheit ist. Heute vertrete ich den Standpunkt, dass es auch Treue in der Untreue gibt. STANDARD: Die Parallele zwischen Don Alfonso und Patrice Chéreau ist natürlich eine Frage, die sich aufdrängt. Heißt das, dass Sie weise geworden sind? Chéreau: Ich? Da bin ich nicht so sicher. Wenn überhaupt, dann nur teilweise. Auf dem künstlerischen Niveau habe ich versucht, das Resultat nicht so offensichtlich erscheinen zu lassen. STANDARD: Der Untertitel der Oper lautet "Opera buffa in zwei Akten". Man hat allerdings den Eindruck, dass Sie den komischen Aspekt etwas vernachlässigt haben. Chéreau: Also, ich finde es sehr witzig. Die komische Komponente wird ja von der Musik eingebracht, die allerdings keine Clownnummern vorsieht. Üblicherweise sind es die Regisseure, die die Buffo-Elemente hinzufügen. Das versuchte ich zu vermeiden. STANDARD: Ende August wird in Venedig Ihr neuer Film, "Gabrielle", mit Isabelle Huppert und Pascal Greggory gezeigt. Worum geht es da? Chéreau: Auch dieser Film handelt von Begierde. Es geht aber um ein Paar, das einander nicht mehr begehrt. (DER STANDARD, Printausgabe, 01.08.2005)