Nackt kommen wir zur Welt, nackt sind wir Kunstheroen: Jan Fabres szenische Geschichte der Tränen.

Foto: Festival Avignon
Avignon - Das 59. Festival von Avignon ging nach dreiwöchiger Dauer am 27. Juli zu Ende. Nie zuvor gab es so heftige Debatten und Diskussionen in Presse und Radio: Ab dem Eröffnungsabend am 8. 7. im Papstpalast, wo der zur Programmgestaltung herangezogene belgische Choreograf und Künstler Jan Fabre seine uninspirierte Histoire des larmes (Geschichte der Tränen) zeigte, war die Tendenz angezeigt: das krude Bloßstellen nackter Körper ohne künstlerische Rechtfertigung. Konsternierend, nicht einmal provokant (wenn man von einem dicken Herren absieht, der auf einer Leiter sitzend in ein Glas urinierte, was aber für an Fabre gewöhnte Zuschauer wirklich eine reine Banalität ist) war diese Tränengeschichte.

Die Avignon-Direktoren setzen mit ihrem Programm 2005 Nacktheit in die Praxis um. In Anathème konfrontiert der Belgier Jacques Delcuvellerie sein Publikum mit 20 peinlichen Anti-Striptease-Szenen, untermalt von Texten aus dem Alten Testament, wo der Gott der Rache Individuen und Völker zum Tode verurteilt.

Inspirative Leere, inszenierte Gewalt unter Tänzern und Schauspielern, arrogantes Ignorieren des Publikums, das massenweise die Aufführungen verließ, war das Fazit. Laut Bekanntmachung zeugte dies alles von der "Schwierigkeit, die Welt und ihre Gewalt heute darzustellen".

Der Streit um die Programmgestaltung hatte bereits vor Beginn des Festivals begonnen, als die Presse feststellte, dass kaum Texttheater geboten werden würde. Mit Ausnahme der 760 Stücke des "Off"-Festivals oder bereits gespielter Produktionen wie den eindrucksvollen neuneinhalb Stunden Transvestitentheater Les Vainqueurs von Olivier Py oder Stücken von Büchner oder Brecht. Die Berichterstattung war drei Wochen lang kritisch: Worauf Kodirektorin Hortense Archambault erklärte, die Stücke seien "nicht fertig" geworden, und sie wolle "Prototypen" erstellen.

Der Figaro antwortete darauf prompt, dass "Prototypen" in Industriehallen - und nicht in subventionierten Theatersälen - kreiert würden, und dass viele Avignon-Produktionen "am besten in der Werkstatt" geblieben wären. Kodirektor Vincent Baudriller konterte, dass man Risiken eben in Kauf nähme. Zu den Erquicklichkeiten zählte z. B. Christian Rizzos Tanzstück, das ästhetische Qualitäten, aber weder Tanz noch irgendeine Aussage bietet und bereits im Pariser Théâtre de la Ville die Massen langweilte.

Auch die Auslastungszahlen sind relativ: Von 129.000 verfügbaren Plätzen wurden 123.000 "abgegeben". Wie viele Plätze verkauft wurden, bleibt geheim. Dass häufig ein Drittel bis die Hälfte der Zuschauer die Vorstellungen verließen, ist nicht abzustreiten. Jedoch: die Kodirektoren wollen ein neues, junges Publikum heranziehen. Dieses blieb jedoch heuer fern.

"Ich denke nicht daran, nochmals 25 Euro zu bezahlen, um mich drei Stunden lang zu ärgern", resümiert eine junge Schauspielerin. (DER STANDARD, Printausgabe, 01.08.2005)