Nationalratspräsident Andreas Khol kritisiert im Gespräch mit Conrad Seidl, die Tendenz der EU, alle Lebensbereiche zu regeln und in Materien Recht zu setzen, die dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten sind.
STANDARD: In den letzten Monaten hat es eine intensive Europadiskussion gegeben – nun ist sie auf dem Niveau "Dekolleteeverbot im Schanigarten" angelangt. Ist das die Europapolitik, die Sie sich gewünscht haben, als Sie begonnen haben, für den EU-Beitritt Österreichs Stimmung zu machen?
Khol: Schon in den frühen 70er Jahren war für mich immer das Ziel das große europäische Friedensprojekt, das große Freiheitsprojekt, das große Wirtschaftsprojekt. Für mich bedeutet Friede Abbau der Grenzen, gerade auch mit Südtirol – ich bin Südtiroler, das darf man nicht vergessen. Der Brenner ist weg, die einheitliche Währung ist da – das ist Europa! Aber nicht die Detailverliebtheit der europäischen Organe.
STANDARD: Die Definition der Krümmung der Gurke war ja ein Wunsch der Wirtschaft.
Khol: Die Wirtschaft wollte einheitliche Qualitätskategorien, damit man nicht unter dem Vorwand "diese Gurke ist zu stark gekrümmt" sie nicht mehr über die Grenze lässt. Nur, seit der Präsidentschaft von Jacques Delors hat sich ja die EU-Welt verändert. Und jetzt ist es Zeit zur Gegenbewegung. Das heißt: Kompetenzen von Brüssel zurück in die Parlamente und in die Regierungen der Mitgliedstaaten zu geben und nur die großen Sachen selbst zu machen. Der Europavertrag, der jetzt im Kühlschrank ist, wäre ja ein Schritt in diese Richtung gewesen.
Standard: Konkret: Soll die EU regeln, wie groß das Dekolletee einer Kellnerin sein darf?
Khol: Ich halte das für skurril. Das sollte nicht einmal der Staat regeln und auch nicht das Bundesland, sondern das ist eine Frage des Geschmacks.
STANDARD: Die EU konstruiert ihre Zuständigkeit für das Dekolletee der Kellnerin und dafür, dass Bauarbeiter nicht mit nacktem Oberkörper arbeiten dürfen, mit dem Schutz der Arbeitnehmer gegen Krebs erregende Sonnenstrahlen. Mit dem Argument des Schutzes der Arbeitnehmer werden Rauchverbote beim Wirt gefordert – was halten Sie davon?
Khol: Ich halte mich an das, was auch für das österreichische Recht gilt: De minimis non curat praetor – also: Über Nichtigkeiten soll sich nicht der Gesetzgeber oder die Regierung aufhalten. Es soll eine gewissen Großzügigkeit gelten, es ist nicht alles staatlich zu regeln. Das widerspricht mir als Christlich-Sozialem und Christdemokraten.
Diese Tendenz haben Sie richtig beschrieben, dass es eine Neigung sowohl der Kommission, vor allem aber des Europäischen Gerichtshofes gibt, die Grundrechtsbestimmungen soweit auszudehnen, dass die Grenzen der Kompetenz gesprengt werden. Wissenschaftspolitik ist keine Kompetenz der Europäischen Union, das Universitätsstudium und den Universitätszugang zu regeln gehört ins nationale Recht. Über den Gleichheitsgrundsatz hat man nun – entgegen allem, was bisher Lehre und Forschung war – durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes de facto Regelungen erzwungen auf einem Gebiet, wo die EU nicht zuständig ist. Was der EuGH total missverstanden hat, ist die Sogwirkung bei bestehendem Numerus clausus in Deutschland. Das heißt, dass wir plötzlich 50 Prozent der Medizinstudenten für die Deutschen ausbilden, ohne dass wir einen Euro bekommen – während unsere Studenten und Studentinnen verdrängt werden. Das hat der EuGH überhaupt nicht berücksichtigt. Wenn die Erfahrungen mit neu beginnenden Studenten und Studentinnen vorliegen, muss man das auf allen Ebenen wieder zur Sprache bringen – sowohl im Europäischen Rat als auch in der Kommission als auch vor dem Europäischen Gerichtshof´.
STANDARD: Österreich soll also versuchen, ein anderes Urteil zu bekommen?
Khol: Ein österreichischer Student oder eine Studentin, die abgewiesen ist, könnte das auf dem Rechtsweg verfolgen – es gibt ja sehr findige Juristen, die diese Dinge angehen werden. Auch die Kommission könnte aktiv werden.
STANDARD: Die Tendenz, alles regeln zu wollen, gibt es ja auch auf nationalstaatlicher Ebene. Ralf Dahrendorf hat dieser Tage im Standard die Haltung kritisiert, dass viele Menschen Eigenverantwortung für absolut wichtig halten – sich im Zweifelsfall aber doch lieber auf die Politik verlassen. Wäre es nicht Zeit, statt neue Gesetze zu beschließen erst einmal die alten, nicht mehr aktuellen auszumisten?
Khol: Wir haben als Hauptaufgabe die Vorbereitung des Vorsitzes der Europäischen Union. Das nächste Jahr wird man daher für große gesetzgeberische Initiativen weder in Anspruch nehmen können noch müssen, denn die großen Reformvorhaben sind abgearbeitet.
STANDARD: Kann man das nutzen, dem Bürger mehr Freiheit zu geben und die Überregulierung zurückzunehmen?
Khol: Den Bürgern mehr Freiheit geben kann man. Das ist das Trachten des Parlamentes und der Regierung, Freiheit heißt aber nicht nur "eine Ruh will ich haben". Freiheit heißt auch: "Ich will Sicherheit haben, eine gute Umwelt, mich wirtschaftlich verwirklichen." Daher sind Umweltschutzgesetzgebung notwendig, Arbeit- und Sozialrecht und auch Sicherheitsgesetze. Allerdings kann ich unnötige Verwaltungslast und totes Recht abschaffen.
Es hat schon ein Rechtsbereinigungsgesetz gegeben, wo wir hunderte von Gesetzen abgeschafft haben, das ist aber nicht weiter beachtet worden. Es hat auch im Österreich- Konvent Konsens gegeben, dass man tausend überholte oder nicht notwendige Verfassungsbestimmungen ersatzlos streichen könnte.
STANDARD: Der Weg zu einer neuen Verfassung scheint noch weiter zu sein, als man sich das zu Beginn der Beratungen erhofft hat?
Khol: Wir beginnen im September mit der parlamentarischen Behandlung des Berichts. Die Verstimmung, ja zeitweilige Blockade, weil wir nicht den Verfassungsausschuss befasst haben, sondern einen Sonderausschuss, die ist noch nicht behoben, aber sie hindert uns nicht am Arbeiten. Ich mache mir keine Illusionen, wir werden keinen fertigen Verfassungsentwurf zustande bringen – aber wir können die Kompromisse aufzeigen. Das betrifft die Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern, die Kompetenzfrage, das betrifft die Finanzverfassungsfrage. Das betrifft die Rechte des Bundesrates, die Ländermitwirkung, betrifft die Bildungsverwaltung. Wie können wir das Bildungswesen verländern? Die Sozialdemokraten sind dafür, wir sind dafür, der Landeshauptmann Herwig van Staa hat da eine Lanze eingelegt dafür.
STANDARD: Das ergäbe aber dann eine Reihe von Verfassungsgesetzen, aber keine geschlossene Verfassung.
Khol: Einen geschlossenen Endbericht, den wird es in dieser Legislaturperiode, fürchte ich, nicht mehr geben. Obwohl ich alles tun werde, um vielleicht ein Mondfenster des politischen Konsenses, wenn es sich auftut, zu nützen. Ziel ist eine neue Verfassung, kein Flickwerk. (DER STANDARD, Printausgabe, 05.08.2005)