Neun Säuglinge hat eine 39-jährige Frau in Ostdeutschland offenbar umgebracht. Gleich nach der Geburt mussten die Mädchen und Buben sterben. Ihre Leichen wurden in Blumenkisten und einem Aquarium versteckt, wo man sie nun, nach vielen Jahren, entdeckt hat. Wie immer, wenn eine Tat völlig unbegreiflich und nicht nachvollziehbar erscheint, diskutiert das ganze Land, wer denn nun die Schuld an diesem entsetzlichen Verbrechen habe. Der Ehemann, die Nachbarn, die Familie, weil sie allesamt möglicherweise nichts sehen wollten?

Man kann ein derart komplexes psychisches und soziales Versagen nicht mit einfachen Worten erklären. Trotzdem hat Jörg Schönbohm, der brandenburgische Scharfmacher der CDU, seine Zunge nicht im Zaum halten können. Schließlich ist Wahlkampf in Deutschland. Er hat es ein wenig höflicher formuliert, aber im Grunde erklärt: Ist doch klar, dass so was bei den proletarischen Ossis passiert. Diese seien teilnahmslos und hätten auch keine Werte vermittelt bekommen, weil der Einzelne ohnehin nichts gezählt habe, sondern nur das Kollektiv.

In einem Punkt hat Schönbohm Recht: Man muss hinterfragen, wie es zu einer solchen neunfachen Tragödie kommen konnte. Aber die ehemaligen Bürger der DDR pauschal als emotional verroht hinzustellen ist einfach nur daneben. Und sage keiner: Schönbohm hat es nicht so gemeint. Der Mann ist Politprofi und weiß genau, dass sich einmal vergossener Wein nicht wieder in Flaschen füllen lässt.

Natürlich gab es in der DDR ein Unrechtssystem, dessen Wertevermittlung sich fundamental von jenem einer Demokratie unterschied. Aber damit kann man die Tötung von Kindern nicht erklären, um gleichzeitig ein bisserl Werbung für die CDU zu machen, wo Werte ja so viel zählen. Unsagbar verzweifelte Menschen gibt es im Osten, im Westen, in Diktaturen und Demokratien - und sogar in Ländern, in denen die CDU regiert. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.8.2005)