Der heutige Staat ist vor allem ein Sicherheitsstaat, denn die Mehrzahl der Menschen wünscht sich eine Gesellschaft der Sekurität, in der das Leben und Denken überschaubar, gemütlich - und hin und wieder unterhaltsam ist. Von Wolfgang Sofsky

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Zeit seines Lebens ist der Mensch von Gefahren umstellt. Sein Körper ist gefährdet durch Krankheit, Hinfälligkeit, Verletzung, Tod. Nahezu schutzlos ist er Naturgewalten und sozialen Mächten ausgeliefert. Daher muss er sich schützen. Andere, die ihm gefährlich werden könnten, hält er sich vom Leibe. Umwelt und Gesellschaft sind voll bedrohlicher Objekte und Subjekte. Gifte, Viren, Automobile und Flugzeuge, Messer, Sprengstoff und Bomben - auf der Liste der großen und kleinen Gefahren sind unzählige Dinge verzeichnet.

Doch wer alle Bedrohungen eliminieren wollte, der müsste den Lauf der Welt vollständig vorausbestimmen. Er müsste die Menschen ihrer Freiheit berauben, die Gesellschaft vollständig beherrschen und die Natur in eine fehlerfreie künstliche Welt transformieren. Nur eine geschlossene Zukunft könnte die Menschen vor bösen Überraschungen bewahren.

Gefährliche Welt

Solange man Not und Tod für Geißeln der Götter hielt, gab es keine Hoffnung auf Sicherheit. Und solange man Katastrophen als Launen der Natur ansah, lag der Gedanke fern, man könne dem Unglück durch eigene Vorsicht entgehen. Doch mittlerweile gelten Unwetter, Hungersnöte, Seuchen oder Kriege als Unheil von Menschenhand. Immer schon lebten Menschen in einer gefährlichen Welt. Aber erst seitdem sie sich zu den Herren dieser Welt gekrönt haben, müssen sie sich alles Unglück selbst zuschreiben und ihre Angst allein bekämpfen.

Das moderne Programm der Weltbeherrschung nährt die Illusion der Sicherheit. Nicht Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit sind die Leitideen heutiger Politik, sondern Sicherheit - jederzeit, überall. Der Aufwand ist beträchtlich. Zahllose Vorschriften und Gegenstände dienen einzig und allein der Reduktion von Gefahren. Tempolimits und Aufprallkissen sollen die Sicherheit im Straßenverkehr erhöhen. Blitzableiter und doppelwandige Öltanks sollen häusliche Katastrophen verhindern.

Maulkörbe, Kondome, Helme

Maulkörbe schützen vor Kampfhunden, Kondome vor sexuellen Infektionen und Schutzhelme vor Steinschlag. Fortwährend sind Behörden damit befasst, neue Grenzwerte zu erfinden und alte Standards zu überprüfen. Lebens- und Verkehrsmittel, Arbeitsgeräte und Produktionsanlagen, Straßen und Plätze, Häuser und Wälder, Erde und Himmel, alles untersteht mittlerweile der Überwachung. Gegen die Unbill des Lebens schließt man Versicherungen ab, gegen wirtschaftliche Risiken hortet man Rücklagen. Die zentralen Institutionen des Staates sind Organe der Sicherheit: Polizei, Justiz und Militär, Sozial-, Umwelt- und Ordnungsverwaltung. Der heutige Staat ist vor allem Sicherheitsstaat.

Viele Zeitgenossen bewegen sich auf unsicherem Terrain. Alarmiert beäugen sie jede unbekannte Substanz und jedes verdächtige Subjekt. Obwohl Lebenszeit und Massenkonsum ein historisch nie gekanntes Niveau erreicht haben, grassiert vielerorts eine merkwürdige Unruhe, ja Hysterie. Besitz fördert die Ängstlichkeit. Je mehr man hat, desto mehr kann man verlieren. Je länger man lebt, desto schwerer fällt der Abschied. Und je länger die Friedenszeit, desto größer die Panik bei einem Massaker. Um sich den Friedenstraum zu erhalten, sucht man die Realitäten des globalen Terrorkriegs zu verleugnen. Insgeheim scheint die Gesellschaft besessen vom Gedanken an ihre Vergänglichkeit. Je rascher die Verhältnisse wechseln, desto unvertrauter das Leben und desto größer das Misstrauen gegenüber anderen und sich selbst.

Fatale Folgen

Die Folgen sind fatal. Da die Sehnsucht nach Sicherheit niemals zu erfüllen ist, bleiben Sorge und Todesangst stets gegenwärtig. In einem Klima der Ängstlichkeit jedoch versiegt der Unternehmungsgeist und erlahmt der Handel. Man wartet und sichert sich ab. Niemand geht ein Wagnis ein. Solange das Risiko nicht auf null reduziert ist, wird jede Initiative eingestellt. Experimente sind verpönt, nur der Kanon der Überlieferung verspricht letzten Halt. Man sucht sein Heil nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Erinnerung und Gedächtnis haben Vorrang vor Erwartung und Entwurf.

Im Sozialen fördert Verzagtheit den Wunsch nach Gleichheit und Homogenität. Viele Menschen wollen unter ihresgleichen bleiben. Fremde und Außenseiter sind verdächtig als Boten und Urheber künftigen Unheils. Die sozialen Kreise verengen sich, die Berührungsfurcht steigt, die gegenseitige Beobachtung verdichtet sich. Argwöhnisch behält man einander im Auge. Erst wenn man sicher ist, investiert man Vertrauen. Solange aber Angst die Gesellschaft regiert, bevorzugt man für sich die Inseln vermeintlicher Geborgenheit: Familie, Freunde, Sippe. Die Mehrzahl wünscht sich eine Gesellschaft der Sekurität, in der das Leben und Denken überschaubar, gemütlich - und hin und wieder unterhaltsam ist.

Umfassender Schutz

Vom Staat verlangt der Untertan umfassenden Schutz. Er soll für das Dasein vorsorgen, in der Not einspringen, vor Übergriffen bewahren. Nicht nur mit Geld zahlen die Menschen für die Fiktion der Sicherheit, sondern auch mit dem Wertvollsten, worüber sie verfügen: mit ihrer Freiheit. Der größte Profiteur ihrer Angst ist der Staat. Er verschafft sich Zustimmung durch das Versprechen von Ruhe und Ordnung. Augenblicklich büßt er diesen Legitimitätsbonus ein, wenn ein Unglück geschieht, eine Epidemie ausbricht oder ein Blutbad angerichtet wird.

Sofort ertönt der Ruf nach verschärften Maßnahmen. Prompt erneuert die Obrigkeit ihr Schutzversprechen, um sich der Treue der Untertanen zu versichern. Patriotische Dekrete werden erlassen, neue Aufsichtsbehörden eingerichtet, Polizei und Geheimdienste aufgerüstet. Die Nervosität des Staates versetzt die Gesellschaft in Aufregung. Wird überall kontrolliert, muss die Gefahr überall sein. Und die Angst der Untertanen legitimiert weitere Maßnahmen. Die Illusion restloser Sicherheit ist die Hauptsäule politischer Herrschaft. Sie führt zuletzt in den Maßnahmenstaat, vor dem niemand mehr sicher ist.

Ein liberaler Bürgerstaat hätte lediglich Gefahren für das Leben und für die gesellschaftliche Freiheit abzuwehren. Der moderne Interventionsstaat indes geriert sich wie das Exekutivorgan eines kollektiven Willens nach umfassender Versorgung und Geborgenheit. Nicht befristete Repression, sondern permanente Prävention ist seine Leitidee.

Was immer der moderne Untertan tut oder lässt, er stößt unweigerlich auf die Zuständigkeit der Staatsgewalt. Sie entscheidet Konflikte um seine Zeugung, regelt seinen Gelderwerb, formt seine Gesinnung und kümmert sich um seine Hinterlassenschaft. Von der Wiege bis zur Bahre befassen sich Staatsbeamte mit dem Untertan. Rundum ist er von Aufsicht und Fürsorge umstellt.

Zuletzt sind die Versprechen des Sicherheitsstaates nie und nimmer zu halten. Er vermag weder die wirtschaftliche Wohlfahrt, den sozialen Zusammenhalt noch Frieden und Freiheit zu garantieren. Die Freiheit einer politischen Ordnung bemisst sich nach der Stärke der Barrieren, die den Einzelnen vor den Maßnahmen der Obrigkeit, den Übergriffen der Nachbarn und den Attacken der Feinde schützen. Diese Freiheit erzeugt Unsicherheit. Sie ist ein riskanter Gewinn. Sie fordert Initiative, Mut, Streitlust, Verzicht auf Sicherheit.

Inwieweit der Freiheitssinn in einer Gesellschaft verankert ist, zeigt sich spätestens in Zeiten des Schreckens, wenn Angst den Alltag überschattet und der Notfall rasche Maßnahmen erfordert. Nicht nur der innere Imperialismus des Staates bedroht die Freiheit. Die Untertanen rufen selbst nach der Beschneidung ihrer Rechte. Aus dem Teufelskreis der öffentlichen Freiheitsberaubung gibt es nur einen Ausweg: Abschied von den Illusionen der Sicherheit, Anpassung an die reale Gefahrenlage, aktive Gegenwehr. Menschen überwinden ihre Furcht, indem sie ihren Alltag besonnen fortführen und die Herausforderung annehmen. Sie müssen sich darauf einrichten, bis auf Weiteres mit dem Terror zu leben. Sicherheitsmaßnahmen sind aufs Unausweichliche zu beschränken, strikt zu befristen und fortlaufend zu kontrollieren. Die kulturelle und militärische Offensive gegen die neue Terrorgefahr benötigt allerdings mehr als ein paar Sicherheitsvorkehrungen: das Bewusstsein nämlich, dass es außer dem Leben überhaupt etwas zu verteidigen gilt. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.8.2005)