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Foto: AP/Kasahara
In Westwood zum Einkauf von weißen Schuhen u. farbigen Hemden.-/ Erster Angriff auf Japan mit Bomben, in denen die Kräfte des gesprengten Atoms (Uran) wirksam./ Das Geheimnis ist also heraus." Thomas Mann notierte dies am 6. August 1945, dem Tag des Abwurfs der ersten Atombombe in der Geschichte der Menschheit, in sein Tagebuch. Erst nach einer Weile gelangte er zu einer umfassenderen Einordnung dieses Ereignisses als fundamentale Erschütterung der Welt: "Die Japaner völlig auf ihre engen Inseln zurückgetrieben - so endgültig wie die deutsche Vernichtung. Denn die Atom-Bombe bedeutet gewissermaßen das Ende der 'Weltgeschichte'."

Tausende von Kilometern entfernt, vor den Toren Londons, war ein anderer Emigrant emotional schneller und tiefer ergriffen. Nachdem Elias Canetti des ganzen Umfangs des Atombombenabwurfs auf Hiroshima gewahr geworden war, verweigerte er längere Zeit jede Nahrung. Zutiefst deprimiert schrieb er: "Was immer du je über den Tod gedacht hast, hat jetzt keine Gültigkeit mehr. Mit einem ungeheuren Satz hat er eine Macht der Ansteckung erreicht wie nie zuvor. Jetzt ist er wirklich allmächtig, jetzt ist er wahrhaft Gott."

30 Jahre später widmete Canetti dem Tagebuch des Arztes Michihiko Hachiya aus Hiroshima über die Wochen nach dem 6. August einen Essay. Canettis schmucklose, wie gehämmert wirkende Auftaktsätze lauten: "Die weggeschmolzenen Gesichter von Hiroshima, der Durst der Blinden. Weiße vorstehende Zähne in einem verschwundenen Gesicht. Straßen von Leichen gesäumt. Auf einem Fahrrad ein Toter. Teiche ausgefüllt von Toten."

Die Atombombe detonierte am 6. August 1945 um 9.15 Uhr über der Hafenstadt, die bis dato von den Brandgeschoßen der US Air Force verschont geblieben war. "Es war ein ruhiger, warmer und wunderschöner Morgen", notierte zeitig in der Früh Dr. Hachiya. "Schimmernde Blätter, die das Licht des wolkenlosen Himmels spiegelten, bildeten einen reizvollen Kontrast zu den Schatten in meinem Garten." Stunden später hatten die Hitzestrahlen in einem Radius von 3,5 Kilometern vom innerstädtischen Hypozentrum aus, einem Krankenhaus, schlimmste Verbrennungen verursacht.

Von jenen Menschen, die sich damals in dieser Zone im Freien aufhielten, blieben nur Schattenumrisse auf Wänden und Brücken oder Aschehaufen übrig. Eine immens starke Druckwelle hatte alles, was aufrecht gestanden hatte, zerdrückt, ein anschließender Feuersturm alles im Umkreis von zwei Kilometern verbrannt und mehr als 70.000 Häuser zerstört. Bis Ende 1945 waren nach Expertenschätzungen rund 140.000 Menschen verstorben, von den Spätfolgen waren in Hiroshima bis zu 350.000 Menschen betroffen, in der wenige Tage später von einer Plutoniumbombe, die die US-Militärs aus Reverenz an den englischen Premierminister Winston Churchill "Fat Man" getauft hatten, getroffenen Stadt Nagasaki 270.000 Menschen. Die Zahl der Toten wurde dort auf 70.000 bis 80.000 geschätzt.

Das Element Plutonium ist sinnigerweise nach dem römischen Totengott Pluto benannt. Der Humanismus war zum verschnörkelten Sediment, zum antiquarischen Dekor der grauenhaftesten Waffe verkommen, die die Menschheit je erfand und einsetzte. "Die Einäscherung Hiroshimas war ein Schlüsselereignis des zwanzigsten Jahrhunderts", urteilt Florian Coulmas, der Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, apodiktisch und macht auf ein prekäres interkulturelles Faktum aufmerksam: "Japans Hiroshima ist nicht Amerikas Hiroshima. In beiden Ländern geht die Formung der Erinnerung weiter, ohne dass eine Konvergenz der Perspektiven zu erkennen ist."

Stilisiert sich Japan seither zum wehrlosen Opfer und unterschlägt begangene Kriegsgräuel und den kriegerischen, fanatisch verblendeten Nationalismus der 1930er- und 1940er-Jahre - der japanische Kriegsminister General Anami plädierte noch nach der Zerstörung Hiroshimas für Kampf bis zum letzten Atemzug: "Wäre es nicht wunderbar, wenn die ganze Nation wie eine prächtige Blüte zugrunde ginge?" -, so wurde in den USA rasch eine durchaus strittige politische Argumentation zum Dogma erhoben. Diese Waffe habe den Zweiten Weltkrieg beendet und das Leben unzähliger amerikanischer Soldaten gerettet, die andernfalls bei einer Invasion Japans ums Leben gekommen wären, so die von offizieller Seite propagierte Meinung.

Dies war aber von Anfang an keineswegs so unumstritten, wie es heute erscheint. Und keineswegs war es derart unantastbar wie heute, was amerikanische Museumsdirektoren erfahren mussten, die sich öffentlichem Druck und politischer Einflussnahme ausgesetzt sahen, nachdem sie zaghaft versucht hatten, die Geschichte der Atombombe in einen auch nur leicht erweiterten, internationalen Zusammenhang einzubetten. Coulmas zeigt mit gebändigter Verve, dass der Abwurf der Atombombe weniger militärischen als vielmehr geopolitischen Gesichtspunkten folgte. Der Ideologie des gerechten Krieges gegen tyrannische Unterdrücker folgend, diente er der präventiven Abschreckung der sich gen pazifischen Raum orientierenden Sowjetunion ebenso wie der Rache am verhassten Kriegsgegner Japan.

Mit kritischer Distanz schildert Coulmas auch die im neu und recht unansehnlich aufgebauten Hiroshima angelegten Gedenkstätten, Parks und Monumente, auch jenes, das für die junge Sadako Sasaki errichtet wurde. Das 1943 geborene, mit zehn Jahren an Leukämie erkrankte Mädchen faltete in der Hoffnung auf Genesung über 1000 Papierkraniche, in Japan das Symbol für langes Leben. 1955 starb sie. Doch ihre Aktion hatte landesweit für Aufsehen gesorgt. Karl Bruckner erzählt Sadakos ergreifende Geschichte liebevoll in seinem nun wieder lieferbaren, preisgekrönten Jugendbuch. Ob der Duktus dieses Buches aber noch die Kids von heute anzusprechen mag, bleibt abzuwarten.

Zeitgemäßer erscheint da Stephen Walkers Herangehensweise, rekonstruiert doch der englische Dokumentarfilmer den Countdown der Katastrophe detailliert, ja minuziös und derart packend, dass man sich mitten im Geschehen wähnt, im Flugzeug, bei Kabinettssitzungen und in Forschungsstationen. Walkers Recherchekünste nötigen Respekt ab. Doch ebendieses überaus plastische, gänzlich theoriefreie Nacherzählen wirft zugleich Fragen auf. Ist es legitim, die beteiligten Menschen zu Heroen à la Hollywood zu stilisieren? Kann man dieses Thema als großes Abenteuer präsentieren, mit pittoresken, exzentrischen Figuren, Spionen und privaten, intimen Gedanken von Ministern, Ehefrauen und Kollegen? Kann man, ja darf man die Historie einer derart schrecklichen "Waffe jenseits des Krieges" (Paul Nitze) als romanhaften Science-Thriller à la Michael Crichton ausspinnen? Stephen Walker ließ sich sichtlich von John Hersey (1914-1993) inspirieren, ohne dies allzu deutlich zu offenbaren, würde dies doch der Marketingkampagne seines Buches schaden, das gleichzeitig in sechzehn Ländern erschienen ist, ohne jedoch Herseys Lakonie zu übernehmen.

Dieser Kriegsreporter schrieb den bis heute unerreichten, den besten Text über Hiroshima. Im Mai 1946 hielt sich Hersey einige Zeit in der zerstörten Stadt auf, nachdem er in den Jahren zuvor von vielen Kriegsschauplätzen berichtet hatte. Martialisch ist allerdings nichts an seinem Bericht. Er folgt sechs Personen - einem deutschen Jesuiten und fünf Japanern - durch mehrere Tage, irrt mit ihnen durch die Stadt und berichtet davon, was passierte, was jedem zustieß und womit sie leben werden. Und schreibt somit darüber, womit die Welt seither leben muss.

Am 31. August 1946 erschien seine Reportage in der Zeitschrift The New Yorker. Dieses Heft erregte großes Aufsehen. Denn niemand zuvor hatte je so über Hiroshima geschrieben. Es gab in dieser Ausgabe nichts anderes zu lesen, keine Kurzgeschichte, keinen Cartoon, keine Gedichte. Nur Herseys Text. Das Magazin war fast über Nacht vergriffen. Bis heute ist Hiroshima ununterbrochen lieferbar. Wieso eine von der New York University zusammengestellte Expertenrunde vor einiger Zeit diesen Text zur besten Reportage des 20. Jahrhunderts in englischer Sprache wählte, bleibt aber dem deutschen Leser skandalöserweise verborgen.

Die deutschsprachige Ausgabe erschien erstmals 1947 in Zürich; bis heute wurde sie mehrfach und unverändert nachgedruckt. Dass seit den 1950ern auf der Titelseite nicht mehr der Übersetzer Justinian Frisch aufgeführt ist, ist einleuchtend, verfälscht denn auch seine umständliche und literarisierende Übertragung von John Herseys dichtem, ausgefeiltem Stil geradezu grotesk. 1982 verfasste Robert Jungk ein Vorwort, das auch dem jüngsten fotomechanischen Nachdruck beigefügt wurde und das antiquierter wirkt als auch nur eine von Herseys Zeilen. Dass der amerikanische Journalist 1985 wieder nach Hiroshima reiste und eine Reportage über die Nachwirkungen schrieb, die seither in jeder englischsprachigen Ausgabe enthalten ist, auch das ist in Deutschland unbekannt.

Eine vollständige, präzise Übersetzung dieses bewegenden Buches über den atomaren Horror ist überfällig. Heute macht der Schrecken davor auch vor den USA selbst nicht Halt. Kürzlich wurde ein Modell der über Hiroshima abgeworfenen Atombombe aus dem Bradbury Science Museum des Los Alamos National Laboratory entfernt, weil es angeblich zu viele technische Details verrate. (Alexander Kluy/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7. 8. 2005)