Wien – Die heimische Großindustrie sieht ihre Zukunft immer weniger an den Standort Österreich gekoppelt. Das behauptet Manfred Reichl, Österreich-Chef des Münchner Beratungsunternehmens Roland Berger, der mit der Industriellenvereinigung eine Befragung der Vorstandschefs der größten hundert österreichischen Konzerne über die Zukunft des Wirtschaftsstandortes bis 2015 unternimmt. Die Studie laufe bis in den Herbst, aber bereits aus den ersten Interviews lasse sich schließen, dass die Spitzenmanager Österreich immer weniger Bedeutung als Absatzmarkt, als Produktionsstandort und sogar als Ort für Forschung und Entwicklung zumessen, sagte Reichl dem STANDARD.

Es sei fraglich, ob überhaupt eine kernindustrielle Wertschöpfung in Österreich behalten werden kann, so Reichl. Drei Aspekte würden Unternehmen noch an den Standort Österreich binden: Bereits getätigte Großinvestitionen, bestehende Beziehungsnetze und die emotionale Bindung des Managements. Doch selbst "patriotische" Unternehmen würden nur eine Hand voll von Headquarter-Jobs im Inland schaffen und den Rest ins billigere Ausland verlagern. Dieser Trend ließe sich nicht durch Schutzmaßnahmen aufhalten, sondern ihm müsse die Politik auf offensive Weise begegnen.

Infrastruktur mangelhaft

Umso ärgerlicher sei der schleppende Straßen- und Schienen-Ausbau in die östlichen Nachbarländer, der viele Unternehmen davon abgehalten habe, in Österreich zu investieren. "Wir haben uns damit Chancen genommen, die von anderen Ländern dann wahrgenommen wurden", klagt Reichl. Das zweite große Versäumnis der Politik sei die schlechte Bildungspolitik, durch die der größte Wettbewerbsvorteil einer modernen Industrienation verloren zu gehen droht.

Die befragten Vorstandschefs kritisierten vor allem, dass in Schulen und Universitäten zu wenig Sprachkenntnisse, Kreativität, Unternehmertum und Realitätsbezogenheit vermittelt werde. Weiters fehle es an Verständnis für andere Kulturen: Im Geschichtsunterricht werde viel zu viel über Österreich und zu wenig über andere Länder gelehrt, sagte ein von Reichl interviewter Spitzenmanager. (Eric Frey, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7.8.2005)