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Screenshot: STANDARD/Album / Foto: AP/Mingay
... verleiht dem Buch eine zusätzliche, eigentümliche Aktualität


Am Harry-Potter-Tag, Samstag, dem 16. Juli, also dem Tag, an dem der sechste Band weltweit ausgeliefert wurde, saß ich mit zwei Enkelkindern in der kalifornischen Sonne am Straßenrand, und wir warteten auf den Briefträger. Im Haus hatten wir es vor Spannung und trotz der draußen herrschenden Hitze nicht mehr ausgehalten. Ich hatte vorsorglich zwei Exemplare (aber nur eins für die Kinder, das andere für die Großmama!) bei Amazon vorbestellt. Der Briefträger verspätete sich (fanden wir jedenfalls), und als er endlich auftauchte, hatte er die Chuzpe, erst die andere Straßenseite abzuklappern, obwohl wir ihm fröhlich und einladend zuwinkten.

"Und wenn er das Buch nun gar nicht dabei hat?", fragte der zwölfjährige Raphael düster. Darauf Antonia, die ältere Schwester, das zarte Geschöpf, mit gefletschten Zähnen: "Kill him!" Es ging gut aus, er hatte das Buch, ging besser aus als der neue Roman, wo sich Schreckliches am Ende abspielt, und wir hatten's allesamt in zwei, drei Tagen ausgelesen. Seither haben mir mehrere Freunde, Akademiker und ernste Leute, leicht errötend gestanden, auch sie hätten nichts anderes getrieben, bis sie den letzten Satz intus hatten. Die Kinder urteilten, dies sei der beste Harry Potter von allen sechsen. Ich stolperte hie und da über lose Fäden, die jetzt weitergestrickt werden und deren Anfänge ich halb vergessen hatte; nicht so die Kinder, die diese Bücher dreimal lesen und alle Einzelheiten hersagen konnten.

Wer dem Sog des Potter-Epos verfällt, und wie wir wissen, sind's Millionen, Kinder sowohl wie Erwachsene, der liest diese Schwarten süchtig und schlaflos zu Ende. Schwer zu sagen, warum. Teils ist's die Fülle der Figuren, der Reichtum an Episoden in der Tradition der großen britischen Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts, besonders Dickens, aber auch aus Rowlings engerer Heimat der schottische Nationaldichter Walter Scott mit seinen dicken und einst so populären historischen Schinken. In jedem ihrer Bücher wird es deutlicher, wie sehr Rowling in dieser realistischen Tradition verankert ist.

Freilich ist nicht der Realismus, sondern die Schulung in Magie das Eigentliche. Die findet jedoch in Grenzen und Schranken statt, denn es wird nicht wild dahergezaubert, so dass alles erlaubt ist, sondern es wird nach Regeln gehext, wir sind ja bitte schön in einem ordentlichen Internat, und die Regeln sind so vernünftig, dass sie dann ihrerseits realistisch wirken. Ein Beispiel ist das Zauberverbot für Jugendliche außerhalb der Schule, was an Autofahrverbot unter siebzehn unter uns Muggles (sprich Philister, Nichtzauberer) erinnert. Auch Küchendienst muss ohne Zauberstab verrichtet werden, wenn man zu Hause und noch nicht siebzehn ist.

Die Schüler im vorliegenden Band sind sechzehnjährig, von der Pubertät heimgesucht und platzen aus allen Nähten, verlieben sich nach Strich und Faden, sind eifersüchtig und machen sich Gedanken über die Zukunft. Sie sind halt junge Erwachsene. Das Dreigespann Harry Potter, Hermione Granger und Ron Weazley hält noch immer fest zusammen, doch deutlich wird, was die feineren Leserinnen und Leser schon lange vermuteten, dass nämlich Ron und Hermione ein Paar abgeben und dass Rons jüngere Schwester Ginny arg verliebt in Harry ist.

Auch das intellektuelle Niveau ist gestiegen, und den Sechzehnjährigen werden anspruchsvolle Denkprobleme gestellt. Da ist die Frage, wie sich eine Prophezeiung, von der die Handlung abhängt, mit der Willensfreiheit, nach der der Mensch seine Zukunft selbst gestaltet, verträgt. Die Frage wird in einem langen Gespräch zwischen Harry und Dumbledore aufgegriffen und spannend gelöst. (Nur der Glaube an die Prophezeiung macht sie wirksam. Sie selbst hat keine Kraft.) Sicher werden viele Kinder über solche philosophischen Nachdenklichkeiten hinweglesen, doch sie beweisen, wie viel Rowling auf den verschiedensten Ebenen zu bieten hat.

Wieder, wie im vorigen Band, spielt die Beschwörung der Vergangenheit eine entscheidende Rolle. Harry taucht wörtlich in Erinnerungen ein, wie in einen Brunnen, diesmal nicht in seine und seiner Eltern Vergangenheit, sondern in die anderer Menschen, und so ist es auch nicht sein Bewusstsein oder sein Unbewusstes, sondern das der Erwachsenen um ihn, das sich ihm erschließt. Er schöpft aus fremdem Gedankengut und lernt unter anderem Lord Voldemorts Herkunft und seine Entwicklung kennen. Diese Szenen sind schaurig unheimlich und zugleich kindlich märchenhaft, oft und dankbarerweise mit einer Prise Komik verbunden. So mischen sich die porträtierten Würdenträger, die an den Wänden hängen, aber aus ihren Rahmen treten können, mit unpassenden Bemerkungen in die tiefsinnigsten Gespräche über Tod und Leben. Absurdität geht eine einmalig unterhaltsame Verschmelzung mit Folklore und Mythologie ein.

Weiter geht's mit dem Kampf zwischen Gut und Böse oder der weißen und der schwarzen Magie. Voldemort, der seit dem vierten Band neu Erstarkte, hat eine Art Privatarmee gebildet, die "Death Eaters", Todesfresser, die hie und da eine gewisse Ähnlichkeit mit der SS aufweisen, meine ich. Aber noch mehr und eine sehr deutliche Ähnlichkeit weisen sie mit den heutigen Terroristen auf. Terror beherrscht jetzt das Leben. Überall nehmen Gewaltverbrechen zu, für die Voldemort und seine Kommandos verantwortlich sind. Das ganze Land, also auch die Muggles, leben in ständiger Unruhe, Sicherheitsmaßnahmen wie nie zuvor sollen auch Hogwarts, die Zauberschule, schützen, aber sie stellen sich (selbstredend) als durchlässig heraus. Dass der Zug, der die Schüler nach Hogwarts bringt, ausgerechnet von King's Cross abfährt, ist Zufall, denn das Buch war fertig, bevor dort die Bombe hochging, und gibt doch der Handlung eine eigentümliche Aktualität.

Es ist wohl unvermeidlich, dass die Autorin eine Verfilmung vor Augen hat, und dementsprechend beschreibt sie Höhlen und Seen und Licht in der Finsternis und jede Menge magische und nicht so magische Objekte, Schmuckstücke und kostbare Behälter, die man sucht, findet, verliert und die auf jeden Fall in filmischer Nahaufnahme zauberhaft glänzen werden. Gleichzeitig mit diesen Abenteuern geht das Schulleben weiter, der Unterricht findet statt, man spielt Quidditch, den Zauberlehrlingsport, man streitet und konkurriert und hilft einander. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich wie in anderen Schulromanen.

Rowling wird von manchen Katholiken und evangelischen Fundamentalisten angegriffen. Ihre Bücher seien unvereinbar mit christlichen Werten, wird behauptet. Aber von mangelnder Moralität kann wirklich nicht die Rede sein. Da könnte man sich schon eher über mangelnde Hygiene beschweren, weil so viele Süßigkeiten verzehrt werden und kein Kind sich auf tausenden Seiten je vor dem Schlafengehen die Zähne putzt. Tatsächlich sind Tugenden wie Respekt vor Andersartigen, Aufklärung über Vorurteile, Weltoffenheit, Multikulturalität, Toleranz und Gleichwertigkeit der Völker und Geschlechter wesentliche Bestandteile dieser Bücher.

Ein Beispiel aus einer Nebenhandlung. Unsere Freunde - und wir mit ihnen - machen sich über eine junge französische Hexe namens Fleur, die mit einem älteren Bruder von Ron verlobt ist, lustig, weil sie sich so viel auf ihre Schönheit einbildet und ihr Englisch nicht perfekt ist. Gerade wenn wir meinen, dass sie ihren Verlobten aufgeben wird, weil ihm bei einem Zusammenstoß mit einem Werwolf das Gesicht entstellt worden ist, entpuppt sie sich als unverbrüchlich treu - und doch, zu unserer Belustigung, noch immer etepetete und aufgeblasen. Sie sei hübsch genug für beide, behauptet sie, und lässt noch ein paar abfällige Bemerkungen über die englische Cuisine fallen. Die Lektion gegen vorschnelles Urteil und ausländische Akzente ist so schmackhaft verpackt, dass man sie wie Schokolade und nicht wie Medizin schluckt.

Ach, und ich würde so gerne meine Theorie über das, was wirklich hinter den schrecklichen Ereignissen und dem offenen Ende der letzten Kapitel steckt, verbreiten. Aber das darf man ja nicht in einer Rezension. Außerdem kann ich mich irren. Jetzt gibt es traurigerweise nur noch einen weiteren Band, denn so ein englisches Internat hat sieben Klassen, und danach müssen die Zöglinge in die Welt hinaus, und wir müssen unsere Vergnügungssucht mit anderem Lesematerial stillen. Doch auf den einen dürfen wir uns noch freuen, wo sich alles, alles klären wird. Im nächsten Jahr, im übernächsten? (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 06./07.08.2005)