Helsinki - Trevor Graham ist der Coach von Justin Gatlin und also befangen. Seit Längerem schon trägt er dick auf: "Justin ist der neue Carl Lewis." Gatlin, 23 und aus Brooklyn, New York, holte sich im Sommer 2004 Olympiagold und am Sonntag WM-Gold. Das ist toll. Carl Lewis ging als neunfacher Olympiasieger und als achtfacher Weltmeister in Pension. Das ist Gatlin nicht entgangen. Also sagt er: "Noch kann ich meinen Namen nicht neben seinen setzen." Carl Lewis verdiente seinen Goldenen auch nicht ausschließlich mit dem Sprinten, sondern auch im Weitsprung, und der Weitsprung ist nicht das Metier des muskelbepackten Gatlin.

Im Olympiastadion zu Helsinki holte übrigens Carl Lewis 1983 seinen ersten WM-Titel im Sprint. "Zu wissen, dass er auf dieser Bahn gelaufen ist, ist irgendwie unheimlich", sagt Gatlin. Und er fügt hinzu: "Ich will eines Tages in seine Fußstapfen treten. Ich will ein Champion unter den Champions sein, denn das ist er." Einen Rekord hat Gatlin seinem großen Vorbild bereits genommen. Binnen 9,88 Sekunden distanzierte er die zeitgleich ankommenden Michael Frater (Silber für Jamaika) und Titelverteidiger Kim Collins (Bronze für St. Kitts und Nevis) um 17 Hundertstel. Es handelt sich um den deutlichsten Sieg bei einer WM, Lewis war 1983 mit 14 Hundertstel Vorsprung durchs Ziel gerannt.

Wie erwartet, musste sich Gatlin nach dem Triumph folgende Frage gefallen lassen: "Was wäre gewesen, wäre Asafa Powell mitgelaufen?" Antwort: "Dann wäre der Weltrekord wohl in Gefahr gewesen, aber ich wäre Erster geworden. Ich habe mich auf diesen großen Tanz eingelassen und ihm die Show gestohlen."

Der verletzte Jamaikaner, der am 14. Juni in Athen in 9,77 Weltrekord markiert hatte, sah das naturgemäß anders: "Ich denke, wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich auch gewonnen. Aber er ist ein großer Champion." Powell gab gleichzeitig bekannt, dass er auch für die Staffel nicht zur Verfügung steht, weil er seinen Muskelfasereinriss im Adduktorenbereich noch ausheilen will. Im Golden-League-Meeting am 19. August in Zürich soll es dann aber zum großen Duell zwischen Weltmeister und Weltrekordler kommen. Zuvor aber will sich Gatlin, der seit 2002 in Raleigh, North Carolina, trainiert, in Helsinki noch zwei Goldene nehmen, im 200-m-Lauf und mit der 100-m-Staffel. "Schließlich bin ich gut in Form. Und sehr hungrig."

2001 war Gatlin positiv auf Amphetamine getestet und für zwei Jahre gesperrt worden. Er gab an, dass das Mittel in einem Medikament, das er wegen seines Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms nahm, enthalten war. Der Internationale Leichtathletik-Verband erließ ihm daraufhin ein Jahr der Sperre. Heute ist Gatlin ohne dieses Medikament total aufmerksam. (bez, APA - DER STANDARD PRINTAUSGABE 9.8. 2005)