" ... und die Welt schaut zu, wie sich die Tragödie ausweitet" - ohne dabei auf die Börsenkurse verzichten zu müssen: CNN live aus Niger.

Foto: CNN
Kürzlich berichtete die "FAZ", dass Niger eine "Krise" durchlebe, "die sich aber noch nicht zur Hungerkatastrophe ausgeweitet hat". CNN sendet täglich Bilder, die einen anderen Eindruck nahe legen. Der Afrikakorrespondent der TV-Station erklärt, warum. - Ein Lokalaugenschein.

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Anfang August, Zwischenstation auf einer mehrstündigen Fahrt durch die Südregion des Landes, im Raum Maradi: Das Erste, was mir auffällt, sind die Geier. Tausende kreisen auf der Suche nach der nächsten Mahlzeit am Himmel. Sie sichten einen Pferdekadaver und stürzen sich darauf, nachdem sie sich vergewissert haben, dass das Tier auch tatsächlich tot ist. Sie picken hinein, zerren am Fleisch mit einer Wildheit, dass binnen kürzester Zeit das Skelett sichtbar wird.

In der Nähe liegen die Kadaver von drei Kühen und einem Esel, die das gleiche Schicksal ereilt hat. "Das ist ein schlechtes Zeichen", erzählt unser Fahrer Tariq Mohammed. "Wenn schon die Tiere sterben wie die Fliegen, wo bleibt dann die Hoffnung für uns Menschen?"

Während der Fahrt treffen wir auf Abubakar Ousmane, einen Tuareg oder nomadisch-muslimischen Hirten. Er hat bereits 20 Kühe verloren, seine abgemagerte Restherde grast nun neben den Knochen. Ousmane hat die Skelette ritualhaft zu einem Berg aufgetürmt. Sie bilden ein bizarres Monument mitten im Nichts. "Die Kühe sind unser Leben", erklärt er, "sie sind wie unsere Familie und wenn sie sterben, ist es, als verlören wir einen Angehörigen." Dennoch hat Ousmane keine andere Wahl, als seine Kühe hier zwischen den spärlichen Halmen weiden zu lassen - in der Nähe seiner zu versorgenden zwei Ehefrauen und insgesamt neun Kinder.

Die verheerende Hungersnot wütet in der gesamten südlichen Hälfte von Niger. Dabei gehört das Land ohnehin zu den ärmsten der Welt, Hilfsorganisationen hatten bereits im Vorjahr vor einer bevorstehenden Hungersnot gewarnt. Heute, acht Monate und viele Tausende Tote später, sieht sich das Land mit einer Katastrophe von erschreckendem Ausmaß konfrontiert. Bis zu 3,5 Millionen Menschen werden hungern, falls nicht bald Regen Abhilfe schafft oder Hilfsgüter verteilt werden. Die Hilfsorganisationen bringen zwar Nahrung ins Land, aber für viele Menschen ist es zu wenig oder gar zu spät.

Im Dorf Azagor, tief im Landesinneren, beobachte ich eine Szene wie aus dem Alten Testament: Die Einwohner schöpfen mithilfe von Zugeseln Wasser aus einem Brunnen. Die Brunnen sind tief und das Wasser fast ungenießbar, aber die Menschen wissen, dass dies die einzige Möglichkeit ist, in diesem gottverlassenen Land zu überleben. Unter denjenigen, die sich um den Brunnen scharen, ist Parti Belari, eine 35-jährige Mutter von fünf Kindern. Sie ist hunderte von Kilometern gereist, um hierher zu gelangen und gibt das Wasser zuerst ihrer neun Monate alten Tochter Adama, die sie sich mit einem Tuch auf den Rücken gebunden hat, bevor die fünfjährige Sheika an der Reihe ist. Und dann die anderen, bis schließlich keiner mehr an Durst leidet. Vorerst . . . "Gott war in der vergangenen Zeit hart zu uns", sagt sie, "wir haben ihn verärgert und werden jetzt dafür bestraft." So denken viele im Dorf, wo die meisten Analphabeten sind.

Belari hat einen Schlauch dabei, notdürftig selbst gebastelt aus einem alten Reifenschlauch. Sie füllt ihn mit Wasser und schnallt ihn ihrem Packesel um den Bauch. Sie lässt drei ihrer Kinder aufsitzen und macht sich wieder auf den Weg - hunderte von Kilometern zurück zu ihrem wartenden Mann, dessen zweiter Ehefrau und sieben weiteren Kindern.

Alles wird gut?

Unterwegs sieht sie eine Gruppe von Frauen, die in der Gluthitze unter einem Baum hocken und warten. Belari bemerkt, dass an diesem Ort vor einiger Zeit der Lkw einer Hilfsorganisation vorbeigekommen sein muss. Die Frauen warten bereits seit drei Tagen. Plötzlich erscheint die Silhouette eines Pick-up-Trucks am Horizont wie eine Fata Morgana. Die Frauen stehen voller Erwartung auf, ihr Warten war nicht vergebens. Für sie verwandelt sich dieser Tag in ein Weihnachtsfest mitten im Hochsommer. Der Lkw gehört zur Hilfsorganisation Oxfam. Er kommt beim Baum zum Stehen. Mehrere Männer steigen aus und verteilen Säcke voller Reis aus Pakistan, Zucker aus Brasilien, Öl und Tee aus China. "Wir versuchen, so viele Menschen wie möglich zu versorgen", sagt Oxfam-Sprecher Louis Belanger, "und wir wissen, dass die Bedürftigsten hier draußen auf dem Land leben."

Die wartenden Frauen bilden eine Schlange. Es gibt keine Rangeleien, vielleicht weil die meisten zu dünn und hungrig sind, vielleicht aber auch, weil sie wissen, dass sie zu den Glücklichen gehören, die diesen Abend etwas zum Essen haben werden. Belari reiht sich ein und wartet, die kleine Adama noch auf ihrem Rücken. Als sie an der Reihe ist, bittet sie um eine Extraportion Reis und Hirse. Sie bekommt nur ihren Teil und geht ruhig davon. Zumindest hat sie genügend Nahrung und Wasser dabei, um ihre Familie ein paar Tage am Leben halten zu können. Auf dem Heimweg schaut sie auf zu den Geiern und lächelt, so, als würde sie denken: "Heute nicht. Noch sind wir nicht dran."

Abdalli Omar dagegen könnte bald sterben. Er ist 75 und so hungrig, dass er kaum mehr aufrecht stehen kann. Seine zehnjährige Tochter Amina stützt ihn, doch dann kehrt sie zu ihrer Arbeit zurück: Sie stampft die verbleibende Hirse für das Abendbrot - die erste Mahlzeit seit einer Woche. Früher besaß ihre Familie zwölf Kühe. Jetzt liegen deren Kadaver verstreut in der näheren Umgebung. Sie sehen so aus, als hätten die Geier sie gefunden, aber liegen gelassen . . . vielleicht, um wiederzukehren. Omars Frau und die fünf anderen Kinder sind in der Hoffnung auf Nahrung in die größeren Städte geflohen, dorthin, wo die Hilfsorganisationen stationiert sind. Nur Amina blieb als Jüngste mit dem Auftrag, ihren alten Vater zu pflegen, zurück. Eine Aufgabe, die eine Zehnjährige kaum verstehen kann. Sie weiß nur, dass sie die Hirse stampfen muss, Wasser kochen, beides verrühren, und alles wird gut.

Doch nichts ist gut in diesem verlassenen Winkel von Afrika. Der Rest der Welt schaut dabei zu, wie sich die Katastrophe ausweitet - vielleicht, weil eine Hungersnot in Afrika eben nur eine Hungersnot in Afrika ist. Und die Bilder von unterernährten Kindern und deren genauso ausgemergelten Eltern, die momentan überall auf den Titelseiten erschienen, immer gleich sind. Es könnte genauso gut Darfur sein, der Ostkongo oder Liberia. Vielleicht auch, weil die Welt lieber die Augen davor verschließt, dass so viele Afrikaner dazu verurteilt sind, unter solchen Umständen zu sterben, oder zumindest zu leiden und zu verzweifeln. Was auch immer der Fall ist, die größten Profiteure dieser Tragödie sind die Geier, deren dicke Bäuche eine deutliche Sprache sprechen.

Es scheint, als wüssten die Tiere genau, dass ihre regelmäßigen Mahlzeiten momentan garantiert sind. Sie müssen nur herumfliegen und darauf warten, dass das nächste Opfer zu schwach wird, um nach Hilfe zu rufen. /DER STANDARD; Printausgabe, 11.8.2005)