Der Präsident entschuldigte sich bei den Siedlern, die Armee probt ein letztes Mal die gewaltsame Räumung: Israel steht vor einer historischen Zäsur – dem Abzug aus dem Gazastreifen

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Im Wahlkampf Anfang 2003 hatte Ariel Sharon bloß geheimnisvoll von "schmerzhaften Konzessionen" gesprochen. Ein Jahr später war nach und nach klar geworden, dass der Premier nicht nur einige, sondern alle jüdischen Siedlungen im Gazastreifen auflösen wollte - zum Entsetzen derjenigen, die bis dahin seine Gesinnungsgenossen im rechten Lager gewesen waren.

Weitere eineinhalb politisch äußerst turbulente Jahre verstrichen, ehe General Dan Harel, der Chef des Südkommandos, diese Woche an die Siedler weiße Umschläge verteilen ließ mit der Anweisung, "bis 14. August 2005 um Mitternacht die Häuser zu räumen und den Gazastreifen zu verlassen". Und den Südabschnitt der engen Landstraße 232, der einzigen Zufahrt zum Kissufim-Checkpoint, über den man die Siedlungszone Gush Katif erreicht, verstopft jetzt schon eine Flotte von Autobussen - sie werden ab Montag jene Siedler abtransportieren, die nicht bereits aus eigener Kraft weggezogen sind.

Wenn es ein "historischer" Augenblick ist, dann nicht deswegen, weil die israelische Armee aus dem Gazastreifen abzieht - das hatte sie schon 1994 vor der Palästinenserautonomie und dann noch mehrmals nach diversen Teilwiederbesetzungen während der Intifada gemacht -, sondern weil Israel erstmals Siedlungen räumt, die im umstrittenen früheren Mandatsgebiet Palästina liegen. Kein israelischer Premier vor Sharon hatte davon etwas wissen wollen. Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 hatte Israel die Ägypter aus dem sandigen Landstrich am Mittelmeer hinausgedrängt, der nicht ganz so groß ist wie Wien und mittlerweile auch beinahe so viele Einwohner hat (geschätzte 1,4 Millionen Palästinenser und, bis nächste Woche, rund 8000 Juden). Die erste Siedlung, die Israelis dann im Gazastreifen errichteten, war 1970 Kfar Darom, an einer Stelle, wo bis 1948 ein Kibbuz gleichen Namens gestanden war.

Und Kfar Darom gehört mit Netzarim und Morag jetzt auch zu den drei Siedlungen, mit denen die Räumung beginnen wird. Es sind jene, die als die "härtesten" gelten, weil fast alle ihrer 1200 Einwohner ideologisch und religiös motiviert sind. Wenn die schwierigsten "Festungen" gleich am Anfang erfolgreich genommen werden, so Sharons taktisches Kalkül, dann ist der Kampf gewonnen.

Ab Montag null Uhr ist der Aufenthalt im Gazastreifen für Zivilisten formal verboten, nach einer letzten Toleranzfrist von zwei Tagen werden unbewaffnete männliche und weibliche Soldaten und Polizisten dann Mittwochfrüh an die Türen klopfen. Nicht weniger als 50.000 Uniformierte - also rund sechs pro Siedler - werden für die verschiedenen Aufgaben aufgeboten, von der Räumung selbst über die Freihaltung der Straßen bis zum Schutz gegen palästinensische Angriffe. Für eine letzte monumentale Generalprobe mit 15.000 Teilnehmern wurde ein ganzer Kibbuz gemietet, der am Mittwoch als "Siedlung" herhalten musste: Mit Plastikschildern rückten Soldatenketten in der Gluthitze gegen engagiert schauspielernde "Siedler" vor, die das Tor verrammelten, über Lautsprecher Parolen kreischten und sich auf Dächern verschanzten.

In der Realität, so hofft man, wird es nicht ganz so schlimm werden. Binnen drei Wochen sollen alle 21 Gaza-Siedlungen menschenleer sein, in der vierten Woche würden dann die vier Siedlungen im nördlichen Westjordanland drankommen. Nach monatelangem Zögern ist mit den Palästinensern nun vereinbart, dass die rund 2800 Gebäude, darunter 26 Synagogen, demoliert werden, um Platz für mehrstöckige Wohnhäuser zu schaffen. Israelische Bulldozer werden die Mauern niederreißen, dann sollen palästinensische und ägyptische Firmen im Auftrag der Weltbank die Schuttmassen wegschaffen. Erst im Oktober dürfte der letzte israelische Soldat den Gazastreifen verlassen. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.08.2005)