In der Diskussion darüber, wie die Universitäten den von der EU ausgelösten Studentenansturm bewältigen sollen, gibt es diverse Vorschläge, deren Umsetzung dazu führen würde, just auf die Begabtesten und Motiviertesten zu verzichten: Aufnahmestopp, Reihenfolge der Anmeldung etc.

Weniger von bloß technokratischen Motiven geleitet, deswegen aber noch nicht weniger dumm, ist die Vorstellung, man könne die akademischen Hoffnungsträger aus der Masse der Studienbewerber aufgrund der Maturanoten "aussieben": weil Ziffernnoten nicht gerecht sein können und daher jede Form eines wie auch immer abgeschwächten Numerus clausus in die Irre führt.

Selbstverständlich gelingt es dem einzelnen Lehrer, seine Schüler in eine stimmige Rangreihe zu bringen, zumindest in den Disziplinen mit zähl- und messbaren Produkten. Überall dort aber, wo Noten von verschiedenen Lehrern und schon gar aus verschiedenen Schulen als Gütesiegel eines Leistungsvergleiches herangezogen werden, beginnt das Desaster!

"Objektive" Zensuren?

Es gibt keine empirische Untersuchung, die den Ziffernnoten eine hinreichende Objektivität attestierte. Ein und dieselbe Schülerarbeit kann im Extremfall alle fünf Zensuren bekommen. Diese Behauptung klingt so unglaublich, dass ich sie mit zwei Beispielen belegen möchte: Im Rahmen eines Vortrages über die Objektivität der Ziffernnoten habe ich etwa 200 Experten des OÖ Schulwesens (Inspektoren auf Landes- und Bezirksebene, Direktoren und diverse Fachberater) gebeten, den Aufsatz eines Elfjährigen in Hinblick auf Inhalt und Sprachgestaltung zu benoten. Rund 90 zeigten bei der Note 3 auf, rund 50 jeweils bei 2 und 4. Etwa fünf Prozent votierten aber auch für ein "Nicht genügend" und gleich viele für ein "Sehr gut".

Die leicht pikierten Kollegen wehrten sich: Bei einer mathematischen Prüfungsarbeit hätten sie ohne Zweifel exakte Übereinstimmung vorexerziert! Daraufhin zitierte ich die berühmte Untersuchung von Karlheinz Ingenkamp aus Berlin, bei der die Zwölfjährigen aus 37 Klassen der (unsortierten!) Orientierungsstufe mit einem mathematischen Schulleistungstest geprüft und die erreichten Punktwerte den letzten Zeugnisnoten gegenübergestellt worden waren. Bei gut einem Drittel der Klassen gab es bei den Strecken, welche die Punktwerte der Zweier-, Dreier- und Viererkandidaten abbildeten, überhaupt keine Überlappung. Das heißt, dass die Leistung, die hinter dem Zweier in der einen Klasse stand, (zum Teil "um Häuser") tiefer lag als die hinter dem Vierer in anderen Klassen.

Wer im Lichte dieser Pars pro Toto stehenden Ergebnisse die Noten aus Matura- beziehungsweise Abiturzeugnissen mittelt und den Numerus clausus wie in Deutschland auf Zehntel- und Hundertstelstellen berechnet, muss wissen, dass schon die Einerstellen nicht stimmen!

Neues Verfahren . . .

Darüber hinaus verbieten es die Gesetze der Mathematik, aus Datensätzen, die oft nicht einmal das Niveau von Intervallskalen erreichen, Mittelwerte zu errechnen. "Wann sagen wir ehrlich", hat Ingenkamp bereits vor mehr als 30 Jahren formuliert, "dass kein Lehrherr eine vergleichbare Aussage aus den Zeugnissen über die Schulleistung von Schülern aus verschiedenen Klassen entnehmen kann? Wann geben unsere Universitäten zu, dass es unsinnig ist, unter zwei Bewerbern aus verschiedenen Schulen, Städten oder gar Bundesländern einen nach den Abiturnoten auszuwählen?"

Es ist an der Zeit, ein grundlegend anderes Verfahren der Leistungsbeurteilung zu installieren. Eine modulgesteuerte Reifeprüfung könnte den Anstoß dazu geben. Nicht in allen Belangen kann und darf die Schule an der außerschulischen Lebenswelt "Maß nehmen"; bei der Leistungsfeststellung aber durchaus! Wer wählt schon einen Handwerker, Architekten, Arzt etc. nach dessen Abschlusszeugnis oder Diplom aus? Auch in künstlerischen Ausbildungsbereichen lässt sich kein Professor von einer Note übertölpeln, sondern er prüft die mitgebrachten Vorlagen (Portfolio mit einer exemplarischen Auswahl der besten "Werkstücke").

. . . der Beurteilung

Diese "Direkte Leistungsvorlage" (DLV) - von der Papierform bis zum audio-visuellen Datenträger - ist mit ein wenig Fantasie in allen schulischen Gegenständen herstellbar. Warum die DLV so gut als Zeugnisersatz geeignet ist, hat eine Gymnasialdirektorin im Gespräch mit einem Volksschullehrer - einem der mittlerweile zahlreichen Vorkämpfer für die DLV - so erklärt: "Wenn Sie einem Kind gute Noten ins Zeugnis schreiben, muss ich Ihnen einfach glauben. Dasselbe gilt bei der verbalen Beurteilung. Wenn aber alle Bewerber Leistungsmappen mitbrächten, würde ich eine Kommission zusammenstellen und wir bekämen in der Tat die Geeignetsten!" - Gilt das nicht auch für die Institute der Universitäten?

Diese könnten doch in einer früh beginnenden Meldephase zusätzlich Fachliteratur angeben, deren "Exzerpt" als letzte Beilage ins Portfolio käme, das die Grundlage für die Eignungsüberprüfung bildet. (Mancher Bewerber würde gar nicht mehr kommen . . .)

Firmen- und Personalchefs erklärten in einer umfangreichen Untersuchung wohl nicht zufällig, zu 91 Prozent, dass sie Portfolios liebend gern gegen das traditionelle Zeugnis eintauschen wollten. Die DLV würde Schluss machen mit dem Unsinn, dass die vorangehende Institution die Auswahl für die nachfolgende trifft. Und auch die Lehrer würden profitieren, da die Befreiung von der Ziffernnote sie in die Lage versetzte, viel mehr als Trainer und Helfer zu agieren, statt die Rolle des Richters annehmen zu müssen, die sie den Schülern suspekt macht und das Klima vergiftet.

Portfolios sind im Übrigen auch "immun" gegen die Fragwürdigkeit von Standardisierungsbemühungen und setzen das "Lernen um der Sache" willen an die Stelle des "Lernens um der Note willen". (DER STANDARD, Printausgabe, 12.8.2005)