Bagdad/Wien – In Bagdad ging es drei Tage vor Fristablauf nicht nur darum, ob es am 15. August einen Verfassungsentwurf geben wird oder eben nicht: Im TAL (Transitional Administrative Law), der irakischen Übergangsverfassung vom Frühjahr 2004, steht, dass das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen werden müssen, wenn der Termin nicht eingehalten wird. Die Chance, um eine Fristverlängerung anzusuchen, hat die Verfassungskommission am 1. August verstreichen lassen.

Deshalb war zu erwarten, dass man bis Montag doch noch einen Text produziert – unter Druck besonders der USA, deren fast ausschließlicher Erfolg im Irak ja die Einhaltung des politischen Fahrplans ist. Natürlich wäre es eine Katastrophe, wenn sich die zu Recht gefeierten Wahlen von Ende Jänner, bei denen die Iraker und Irakerinnen so viel Mut gezeigt – und dutzende ihr Leben gelassen – haben, als sinnlos herausstellen würden. Das Grundvertrauen, das viele Iraker in die neuen politischen Verhältnisse haben, ist ja bereits äußerst gering, es würde weiter schwinden.

Nathan Brown vom Carnegie Endowment for Peace in Washington hat, gestützt auf die Aussagen eines Mitglieds der Verfassungskommission, eine Liste der bis zuletzt umstrittenen Punkte aufgestellt. Auch wenn sie am Wochenende gelöst werden sollten, bleiben sie ein guter Einblick in die Probleme des neuen Irak, wobei ihre Wertigkeit oder Lösbarkeit sehr unterschiedlich sind:

  • der Name des Irak (föderal und/oder islamisch)

  • Religion (die präzise Formel für die Rolle der Scharia in der Rechtsprechung)

  • die konstituierenden Elemente des irakischen Volkes (ob und welche Gruppen genannt werden)

  • Sprache (Kurdisch gleichgestellt oder nur offiziell in den Kurdenregionen, Status anderer Sprachen)

  • Identität (ob und wie der Irak als arabisch und islamisch bezeichnet wird)

  • die Marja'iya (ob und wie die schiitische religiöse Autorität, Marja'iya, in der Verfassung vorkommt) und der Status der schiitischen heiligen Stätten

  • Status des Präsidenten (rein protokollarisch oder mehr) und Zahl der Vizepräsidenten

  • Minister (ob sie Parlamentsmitglieder sein dürfen oder müssen)

  • Verteilung Öleinkommen

  • Familienrecht (gemäß Konfessionsangehörigkeit vs. ein Gesetz für alle)

  • Bezeichnung des föderalen Zusammenschlusses als "freiwillig", Recht auf Selbstbestimmung (kurdischer Wunsch)

  • Kirkuk (Kurden wünschen eine Bekräftigung des Artikels 58 des TAL, der eine Rückgängigmachung der Arabisierung unter Saddam vorsieht)

  • die Grenzen Kurdistans

  • eine zweite Parlamentskammer (Provinzen und/oder Regionenvertretung)

  • Doppelstaatsbürgerschaft oder nicht, besonders für hohe Staatsbeamte (viele der Politiker haben einen Zweitpass)

  • Bezug auf das TAL.

    Brown merkt an, dass sich einige Punkte unter dem Thema "Föderalismus" zusammenfassen ließen – wobei sogar das Wort selbst umstritten bleibt. Einige Sunniten plädierten bis zuletzt für "Dezentralisierung", am anderen Ende der Skala steht der kurdische Wunsch nach einem sehr starken Föderalismus, der Züge eines Provisoriums aufweist. Vor wenigen Tagen ließ Abdel Aziz al-Hakim, Führer des Obersten Rats für die Islamische Revolution im Irak (Sciri), aufhorchen, als er seine Vision von einem autonomen schiitischen Südirak verkündete. In den verfassunggebenden Prozess eingebundene Schiiten wiesen dies sofort zurück. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.8.2005)