Ein großer oder ein kleiner Schritt? Keine vier Prozent der 240.000 jüdischen Siedler im Palästinensergebiet (Ostjerusalem ausgenommen) sind vom israelischen Abzug aus dem Gazastreifen betroffen, und trotzdem ist, was da offiziell Sonntagnacht anläuft, ein enormer Einschnitt in der Geschichte Israels: Zum ersten Mal werden Siedlungen zugunsten der Palästinenser aufgelassen. Das ist auch der größte Unterschied zur Räumung des Sinai nach dem Friedensschluss mit Ägypten, größer als die unterschiedliche ideologische Bedeutung des betroffenen Territoriums.

Damit hat Israel, das die Palästinensergebiete nicht als besetzt - obwohl Ministerpräsident Ariel Sharon selbst das Unwort "Besetzung" schon in den Mund genommen hat -, sondern als umstritten bezeichnet, diese Umstrittenheit für einen kleinen Teil der Gebiete zum ersten Mal im Sinn der Palästinenser beantwortet.

In der offiziellen - euphemistischen - Selbstdarstellung Israels hieß es ja immer, dass die 1967 eroberten Territorien nur als Verhandlungsobjekt gedacht waren. Der Gazastreifen wird nun ohne Verhandlungen aufgegeben (oder eben abgekoppelt - wie das israelische Außenministerium in einem Versuch, ein möglichst wertfreies und interpretationsresistentes Wort zu finden, die Aktion benamst hat). Dass das viele Israelis, auch solche, die gegen die Besetzung sind, für einen gefährlichen Weg halten, darf nicht wundern.

Aber die Formel wurde ja auch sozusagen am anderen Ende außer Kraft gesetzt: Der Bush-Sharon-Briefwechsel vom April 2004, der den jetzt beginnenden Abzug erst möglich gemacht hat, legt unter anderem fest, dass ein Teil der Gebiete eben keine Verhandlungsmasse sind.

Das größte Dilemma ist jedoch, dass palästinensische Extremisten im Gazastreifen sich den israelischen Abzug als Feder auf ihren Hut stecken: Sie hätten das Gebiet befreit, sagen sie. Das ist nicht nur ein Ärgernis, sondern Grund zu konkreter Sorge, weiß man doch, was der israelische Libanon-Abzug im Jahr 2000 für einen psychologischen Einfluss auf die Intifada gehabt hat.

Aber das heißt nicht, dass man in Fallen, die man sich gegraben hat, ewig sitzen bleiben soll und muss: Sharon hatte den Mut zum Befreiungsschlag, nach Jahren des Patts ist er der erste israelische Politiker, der wieder eine Vision hat und einen Weg hinaus sucht. Nun ist es nicht so, dass er diese Vision klar darstellt - im besseren Fall hat er dafür Gründe, die auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu suchen sind.

Denn es ist recht und billig, sich Sorgen zu machen, wie es weitergeht. Viele befürchten, dass, wenn es zu keinem politischen Prozess nach dem Gaza-Abzug kommt, an dessen Ende ein palästinensischer Staat steht, eine dritte Intifada noch mehr Blut über Israelis und Palästinenser bringen wird. Tatsächlich lässt sich nicht auf einen Schlag, durch eine "Abkopplung", herstellen, was am Ende eines Friedensprozesses stehen sollte: Sicherheit und Anerkennung für Israel, ein Leben ohne Besatzung für die Palästinenser.

Aber man sollte nicht die Chancen, die sich jetzt bieten, in den Wind schlagen: Der israelische Schritt ist weiter unilateral, aber konkret dürfte die Zusammenarbeit mit der palästinensischen Behörde nicht so schlecht laufen. Man lernt einander, nach Jahren der Trennung, wieder kennen. Wichtig ist auch die Teilnahme Ägyptens am ganzen Prozess, nicht nur aus sicherheitstechnischen, sondern aus regionalpolitischen Überlegungen.

Wie die Grenze in Rafah, im Süden des Gazastreifens nach Ägypten, aussehen wird - nach Willen der Israelis muss der Grenzposten übrigens nach Kerem Shalom verlegt werden, wo Israelis, Palästinenser und Ägypter zusammenarbeiten werden -, ist eines der Details, die über das Gelingen des Projekts entscheiden werden: ob genügend Sicherheit für Israel möglich ist, ohne dass die Palästinenser in einem Gefängnis eingesperrt bleiben. Wenn das gelingt, wird der Prozess nicht aufzuhalten sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.8.2005)