Labile Mutter- Tochter- Beziehung: Glenn Close und Dakota Fanning im Siegerfilm "Nine Lives".

Foto: Internationales Filmfestival Locarno

Locarno - Mit dem Italiener Vittorio Storaro, dreifacher Oscar-Gewinner, langjähriger Weggefährte von Bernardo Bertolucci, Francis Ford Coppola oder Warren Beatty, hatte dieses Jahr ein Kameramann den Juryvorsitz in Locarno. Ob diese Entscheidung bereits in Hinblick aufs Programm gefällt wurde oder nicht - die Tatsache, dass ein Altmeister über die Preisvergabe wachte, schärfte in jedem Fall den Blick für die visuellen Strategien, die in den gezeigten Filmen zur Anwendung kamen.

So ließe sich zum Ende der 58. Ausgabe des Festivals etwa eine kleine Renaissance der Plansequenz vermelden - das heißt der Aufzeichnung und Wiedergabe eines Geschehens ohne Schnitt, versehen mit dem Nimbus der Wahrhaftigkeit und zugleich einem gewissen Erfindungsreichtum förderlich:

Der Japaner Nobuhiro Suwa beobachtet in solchen langen Aufnahmen den aufreibenden Stellungskrieg eines Paares, verkörpert von Valéria Bruni- Tedeschi und Bruno Todeschini. Statt sie in einzelne Einstellungen zu zerlegen, werden einzelne Situationen hier in unterschiedlichen Bildebenen arrangiert oder über die Bewegungen der Schauspieler im Raum verdichtet.

Und wenn zu Beginn, während einer belanglosen Unterhaltung, das Zimmermädchen im Hintergrund beiläufig ein zweites Bett installiert, dann ist das bereits ein erstes Indiz dafür, dass das "perfekte Paar", das der Titel dieses ruhigen Films beschwört (Un couple parfait), längst mit gravierenden Auflösungstendenzen zu kämpfen hat.

Suwa, der sich schon mit H Story, einer Film-im-Film-Versuchsanordnung über Alain Resnais' Hiroshima mon amour, mit dem französischen Autorenfilm auseinander gesetzt hat, erweist diesem Kino auch diesmal seine Reverenz. Jacques Doillon sitzt gewissermaßen wie ein Pate auf einer Hochzeitsfeier mitten unter jungen Frauen. Caroline Champetier, die mit Carax, Godard, Techiné, Garrel und vielen anderen gearbeitet hatte, stand als Chef-Operatrice hinter der Kamera.

Neun mal eins

Un couple parfait erhielt den Spezialpreis der Jury. Der Hauptpreis des diesjährigen Festivals wurde hingegen an Nine Lives von Rodrigo García vergeben. Eine US-Produktion mit Starbesetzung:

Neun US-Aktricen - von Kathy Baker über Glenn Close bis zu Holly Hunter und Sissy Spacek - verkörpern darin jeweils eine Frau an einem entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens. Die neun Geschichten sind lose miteinander verquickt, jede für sich ist allerdings in einer Plansequenz (Kamera: Xavier Pérez Grobet) aufgelöst. Nicht zuletzt auch eine logistische Glanzleistung, die den Juryvorsitzenden sicher zu begeistern vermochte.

Das Ensemble des Films wurde außerdem mit dem Darstellerinnenpreis bedacht, das Pendant für die Herren ging an Patrick Drolet, den Hauptdarsteller des kanadischen Beitrags La neuvaine. Weitere Auszeichnungen erhielten unter anderem die deutschen Wettbewerbsbeiträge Fratricide von Yilmaz Arslan und 3 Grad kälter, das schön fotografierte, aber erzählerisch defizitäre Regiedebüt des Kameramannes Florian Hoffmeister, sowie der iranische Film Ma hameh khoubim - We're All Fine von Bizhan Mirbaqeri. Der Regisseur lässt darin die Familie eines Emigranten ein Homevideo für diesen drehen. Die amateurhaften Videobilder konterkarieren nüchterne Alltagsbeschreibungen.

Demgegenüber befleißigen sich andere konsequent einer konzeptuellen Strenge: Der Filmemacher Romuald Karmakar hat seine Beobachtung der deutschen Techno- und Elektronikszene fortgesetzt. Für Between The Devil and The Wide Blue Sea hat er als sein eigener, alerter Kameramann Auftritte von DJs, Performern und Bands mitgefilmt.

Unkommentiert, aber dramaturgisch sinnfällig aneinander gereiht, ergeben seine Plansequenzen einen kleinen Überblick über eine heterogene Musikszene und halten zugleich auch unterschiedlichste Orte (von der Großraumdisko bis zum Miniklub), Darbietungsformen (vom stoischen Agieren hinterm Laptop bis zur exaltierten Show) oder Auditorien fest, für die sich das dokumentarische Kino sonst selten interessiert.

Nachfolger bestellt

Zum Abschluss des 58. Internationalen Filmfestivals wurde dann noch die Nachfolge der scheidenden Direktorin Irene Bignardi entschieden: Der 43-jährige Schweizer Filmjournalist und Kinomacher Frédéric Maire wird für vorerst drei Jahre bestellt. Er tritt in Zeiten, da Locarno im Festivalreigen seitens San Sebastian oder Venedig zunehmend unter Druck gerät, kein leichtes Erbe an. (DER STANDARD, Printausgabe vom 16.8.2005)