Berlin/Frankfurt - Die Räumung der israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen wird auch am Mittwoch von zahlreichen Zeitungen kommentiert:

Berliner Zeitung

"Juden tragen Juden aus ihren Häusern. Dieses Ereignis als 'Vertreibung' zu bezeichnen, kann nur ideologischen Wirrköpfen einfallen, die übersehen, dass die Aufgabe der Siedlungen im israelischen Parlament beschlossen wurde und die lange anstehende Korrektur eines historischen Fehlers ist. (...) Die Siedlungen dienten niemals der Sicherheit Israels, sondern waren viel eher dazu geeignet, das Leben seiner Bewohner, der Siedler im Gaza-Streifen und der dort lebenden Palästinenser zum brutalen Abenteuer zu machen. Ariel Sharon wegen der Aufgabe des Gaza-Streifens allerdings als Friedensbringer, als vom 'Falken' zur 'Taube' mutierten Staatsmann zu rühmen, ist falsch. Das geschieht jetzt oft, aber der Gaza-Abzug ist nichts als ein großer PR-Erfolg Israels, der so vieles verschleiert: Israel braucht den Gaza-Streifen nicht, aber es braucht das Westjordanland, wo inzwischen 250.000 (mit Ost-Jerusalem über 400.000) Siedler leben. Sharon glaubt, durch die Rückgabe des Gaza-Streifens den Großteil des Westjordanlandes halten zu können. (...) Wer noch immer meint, Sharon sei auf den Weg des Friedens eingebogen, der sei daran erinnert, dass er es war, der den Siedlungsbau überall im Land forciert hat."

Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Der Anfang der Gaza-Räumungsaktion konnte die Hoffnung nähren, dass das gewagte Unternehmen ohne größere Gewalttätigkeiten zu Ende gebracht werden kann. (...) Sharons in zäher und raffinierter politischer Arbeit durchgesetzte Entscheidung zur Räumung war nicht - jedenfalls nicht in erster Linie - einer Absicht zuzuschreiben, den Palästinensern entgegen zu kommen, um vielleicht Gegenkonzessionen aus Dankbarkeit zu bewirken. Die Hauptmotive, aus israelischer Interessenerwägung, waren offensichtlich, die Belastung eines unverhältnismäßig hohen Sicherheitsaufwands wegen einiger tausend Siedler außerhalb des geschichtlichen israelischen Kerngebiets abzuwerfen und der demographischen Bedrohung entgegen zu wirken."

"Jyllands-Posten" (Kopenhagen):

"Ungeachtet aller Sympathie aus menschlichen Gründen für die Menschen, die in diesen Tagen durch passiven Widerstand den unabwendbaren Abzug aller israelischen Siedler aus dem Gaza-Streifen hinauszögern wollen, führt doch kein Weg daran vorbei. Die Haltung der Weltgemeinschaft wiegt schwerer als die Hoffnungen der Demonstranten und die traurigen Schicksale, die Folge der Räumung sein können. Die Betroffenen hatten Leib und Seele in die Schaffung eines eigenen Heims und einer Existenz am Rande der Sinai-Wüste gelegt. Der Beschluss zum isolierten Rückzug aus Gaza ist Ariel Sharons eigener. Aber er steht in Übereinstimmung mit den Resolutionen der Vereinten Nationen und dem gestrandeten Friedens-Fahrplan, den die USA als Start eines eigentlichen Friedensprozesses entwickelt hatten."

"La Croix" (Paris):

"Die Wunden des israelisch-palästinensischen Konflikts sind so tief und schmerzhaft, dass der Frieden nur mit Zugeständnissen erreicht werden kann. Für die 8000 Siedler im Gaza-Streifen ist ihr Umzug ein wirkliches Zugeständnis und für die Welt ist er ein Symbol. Israel wird gern vorgeworfen, niemals nachzugeben, doch diesmal wird das Gegenteil bewiesen. Als gewiefter Stratege überlässt Sharon jetzt dem palästinensischen Präsidenten Abbas die Aufgabe, seine Bereitschaft zum Dialog zu zeigen. Doch beide stehen erst am Anfang eines langen Weges. Die internationale Gemeinschaft ist mehr denn je aufgerufen, die Bemühungen beider Männer zu unterstützen, um jede Chance auf Frieden zu nutzen, so gering sie auch sein mag."

Frankfurter Rundschau

"Recht hat Sharon auch damit, dass es nicht die Schwäche, sondern die Stärke Israels beweist, wenn es sich von Gaza verabschiedet. Die meisten Israelis sehen das ähnlich, trotz des letzten Aufgebots radikaler Siedler, sich möglichst dramatisch dem Auszug zu widersetzen. Ihr Traum hat sich überholt. Je schneller die am Mittwoch beginnende heikle Phase der Zwangsräumung vonstatten geht, umso besser für das gesamte Land. Dies durchzusetzen ist offenbar tatsächlich nur einer vom Schlage Sharons in der Lage, der aus dem nationalrechten Lager stammt. Um die sich dadurch auftuende historische Chance zu nutzen, reicht es allerdings nicht, seinen Landsleuten und der Welt zu verkünden, dass jetzt die Palästinenser am Zuge seien. Sharons unilateraler Schritt kann den Friedensprozess erleichtern. Aber gelingen wird eine Koexistenz nur, wenn sich auf beiden Seiten verhandlungsbereite Partner finden."

Süddeutsche Zeitung

"Sharon hat das Siedeln stets aus Sicherheitsgründen gefördert. Solange Siedlungen von Zehntausenden Soldaten beschützt werden, können die arabischen Staaten Israel nicht noch einmal mit einem Überraschungsangriff zunächst in die Defensive drängen wie zu Beginn des Jom-Kippur-Kriegs 1973. Die Siedlungen im Gaza-Streifen sollten nach dem Willen Sharons garantieren, dass sich die Palästinenser nicht von Ägypten und vom Mittelmeer aus mit Waffen versorgen. Dass derselbe Sharon nun die 21 Siedlungen im Gaza-Streifen aufgibt, hat einen simplen Grund: Jahrzehntelang haben sich zu wenige Juden dafür entschieden, nach Israel und in die besetzten Gebiete einzuwandern. Sharons einzig klar formuliertes Regierungsziel ist die Einwanderung einer Million Juden in den nächsten zehn Jahren, doch seit Beginn der Intifada vor fünf Jahren ist die Zahl der Neu-Einwanderer drastisch zurückgegangen. (...) Die großen Streitfragen wie endgültiger Grenzverlauf, Rückkehr von Flüchtlingen und Hauptstadt Jerusalem will Sharon vorerst nicht erörtern. Er setzt darauf, dass der Konflikt, wenn die Palästinenser erst einmal ihren provisorischen Staat haben, als einer von vielen lokalen Grenzkonflikten dieser Welt in Vergessenheit gerät. Doch könnten palästinensische Extremisten mit einer dritten Intifada von Herbst an versuchen, die Siedler aus dem Westjordanland zu vertreiben."

"Il Messaggero" (Rom):

"38 Jahre und drei Monate: So lange hat die israelische Besatzung im Gaza-Streifen gedauert. (...) Arik 'der Bulldozer', wie Ariel Sharon wegen seines früheren Einsatzes für den Bau jüdischer Siedlungen genannt wurde, hat nicht zuletzt die eigenen Freunde von einst schockiert, nicht nur, weil er eine epochale Kehrtwende gemacht hat, sondern zudem völlig allein darüber entschieden hat. Sharon hat mit niemandem darüber verhandelt, weder mit den Palästinensern, gegen die er sich ansonsten mit dem Bau einer Mauer verteidigt, noch mit den Amerikanern, die - falls sie wirklich für einen Friedensprozess engagiert sein sollten - immer die Geldbörse für Israel zumachen könnten, um es so zu Konzessionen zu zwingen, die es sonst nicht machen würde. Und Sharon hat zudem die israelische Linke schockiert, die sich daran gewohnt hatte, ihn als Scharfmacher der Rechten zu sehen, und die nun Arik 'den Bulldozer' entdeckt, der jedoch nicht jüdische Siedlungen baut, sondern sie abreißt." (APA/dpa)