München/Berlin/Frankfurt - Der israelische Abzug aus dem Gaza-Streifen steht auch am Donnerstag im Zentrum zahlreicher Pressekommentare:Süddeutsche Zeitung

"Die israelische Besatzung des Gaza-Streifens und des Westjordanlandes ist Unrecht, das politisch korrigiert werden muss. Nur: Stehen die Palästinenser nach dem Gaza-Rückzug besser da? Steigen ihre Chancen auf ein rasches Ende der Besatzung im größeren Westjordanland? Rücken das Ende der israelischen Besatzung und ein lebensfähiger Palästinenserstaat in greifbare Nähe? Wohl kaum. Zwar haben die Palästinenser im Idealfall in Gaza bald eine Art Miniaturstaat mit halbwegs offenen Grenzen. Doch könnte der israelische Gaza-Rückzug es den Palästinensern andererseits sogar noch schwerer machen, ihre Forderungen nach Räumung des Westjordanlands durchzusetzen. Israel will sich offensichtlich nicht an die Vorgabe der Vereinten Nationen halten, alle im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzten Gebiete zurückzugeben. Regierungschef Ariel Sharon baut derzeit die wichtigsten Siedlungen im Westjordanland gezielt aus. (...) Sharon schafft Fakten: Während er im Gaza-Streifen als Vertreter einer 'unilateralen' Friedenslösung auftritt, zeigt er im Westjordanland das gegenteilige Verhalten. Wer glaubt, dass ein wirklicher Palästinenserstaat in Sharons Plänen seinen Platz hat, ist naiv. Sharon will allenfalls ein kleines zerstückeltes Land für die Palästinenser."

Der Tagesspiegel, Berlin

"Was sich jetzt in Gaza abspielt, ist ein gewalttätiges, zuweilen auch mörderisches Drama. Aber anders als in der griechischen Tragödie ist das Ziel der Ideologen nicht die erlösende Katharsis. Ihnen geht es darum, der israelischen Gesellschaft ein weiteres Trauma zuzufügen. Denn je herzzerreißender die Bilder und je größer der Aufwand sind, den die Staatsmacht betreiben muss, desto höher wird die psychologische Hürde für zukünftige Regierungen, Siedlungen auch in der Westbank zu räumen. (...) Die gestrige Selbstverbrennung einer Siedlerin macht deutlich, wie weit sich manche Groß-Israel-Ideologen von der traditionellen Religionsauslegung entfernt haben und zu was für Auswüchsen die götzenhafte Anbetung des verheißenen Bodens führt."

Handelsblatt, Düsseldorf

"So wie Israels Premier seinen Abzugsplan gegen innenpolitischen Widerstand durchsetzt, muss der Palästinenserpräsident jene zügeln, die sich seiner Politik widersetzen und sich dem Frieden in den Weg stellen. Abbas muss den eigenen Bürgern, den Nachbarn und der Welt endlich beweisen, dass seine Regierung das Land kontrollieren kann. (...) Dazu gehört in erster Linie, dass er nicht länger die Auseinandersetzung mit den bewaffneten Milizen scheut."

Liberation, Paris

"Der Krieg der Kolonien fand also doch nicht statt, auch wenn die Evakuierung des Gaza-Streifens die größte militärische Operation der israelischen Armee in Friedenszeiten gewesen ist. Leider wird jedoch die Verdrängung der Siedler nicht ausreichen, um die Wunden in der Gaza-Region heilen zu lassen. Der israelische Ministerpräsident Sharon und der palästinensische Präsident Abbas haben bewiesen, dass sie konzertiert handeln können und Verpflichtungen, den Gaza-Streifen betreffend, einhalten. Sie werden allerdings Mühe haben, auf dem Weg zum Frieden oder zumindest zur Beruhigung der Lage fortzufahren. Sie werden jede Unterstützung brauchen, die die Welt ihnen geben kann."

"Basler Zeitung":

"'Historisch' nennen Politiker und Kommentatoren den Beschluss und preisen Sharons Mut. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gaza-Rückzug kein Friedensprojekt ist. Vielmehr ist er das Ende der verbreiteten Illusion, wonach ein paar tausend jüdische Siedler in Gaza ein relativ bequemes Leben führen könnten - direkt neben 1,4 Millionen Palästinensern, die von ihrer Umwelt abgeschnitten ein erbärmliches Dasein fristen und von internationaler Hilfe abhängig sind."

"Trouw" (Den Haag):

"Es bleibt undeutlich, worauf Sharon mit diesem Beschluss hinaus will. Bis heute hat der israelische Premier keine überzeugende Erklärung für die Evakuierung gegeben. Deutlich ist, dass Israel nicht länger für die 1,4 Millionen Palästinenser verantwortlich sein will, die im Gaza-Streifen leben. (...) Aber es besteht die Furcht, dass Sharon nur einen Bauern opfert, um einen strategisch viel wichtigeren Zug machen zu können, nämlich Israel Teile des Westjordanlandes einzuverleiben."

"De Volkskrant" (Amsterdam):

"Auch unter den Befürwortern eines Ausgleichs mit den Palästinensern lebt die Angst, dass diese den Rückzug nicht als neue Chance der Annäherung sehen, sondern als Zeichen israelischer Schwäche und als Ermutigung für Hamas und andere. Diese Angst, die leider nicht unberechtigt ist, kann nur genommen werden, wenn der Gaza-Streifen eine ordentliche Verwaltung erhält und nicht zu einer Bastion des palästinensischen Extremismus auswächst. Das verlangt einen starken internationalen, also auch europäischen Einsatz."

taz, Berlin

"Der Abzug der Israelis könnte der von Gewalt geplagten Region Frieden bringen - und zum Modell für das Westjordanland werden. Doch die Chancen dafür stehen nicht gut. (...) Eineinhalb Jahre nach Verkündung seines Plans holt Sharon die Israelis aus dem Gaza-Streifen heraus. Er hat eingesehen, dass es strategisch falsch war, sie überhaupt erst dort anzusiedeln. Die Israelis ziehen ab, ohne Verhandlungen, ohne Gegenleistung. Die Palästinenser kommen im Gaza-Streifen, wenngleich von ihrem Ziel Palästina noch weit entfernt, der Selbstbestimmung über ihr Land deutlich näher. (...) Doch ob Gaza zum Modell für den Brennpunkt Westjordanland werden kann, ist fraglich: Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen. Im Westjordanland haben aus Sicht der israelischen Strategen die jüdischen Siedlungen eine Funktion für die Verteidigung der Städte innerhalb Israels. Logische Konsequenz ist der massive Aus- und Neubau jüdischer Siedlungen auf palästinensischem Land. Die Kämpfer dort bleiben also unverändert motiviert, das Land vom Besatzer zu befreien. Von vier isolierten Siedlungen im Norden abgesehen, die im September geräumt werden sollen, gibt es vorerst keinen Plan für weitere Evakuierungen. Im Gegenteil: Im Raum Jerusalem ist der Neubau mehrerer tausend neuer Wohneinheiten eine von der Regierung bereits abgesegnete Sache."

Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Aus Einzelschicksalen lässt sich wohl erkennen, dass die bisherigen Siedlungen (im Gaza-Streifen) auch ein Rückzugsort für sozial gefährdete Personen waren. Viele fürchten nun weniger den Abzug als den Verlust dieser Heimat. 'In Morag war ich wer, hier in Israel bin ich nichts', wird ein alter Mann zitiert. Mit diesen Menschen hat Israel Mitleid, selbst wenn sie sich bisweilen der Armee in den Weg stellen. Auf Ablehnung stoßen Flugblätter, die die Siedlerführer von Kativ verteilten, um die Abzugsgegner rhetorisch für die Konfrontation mit den israelischen Soldaten zu rüsten."

Corriere della Sera "Als Sharon sich 2001 zum ersten Mal (...) daran machte, Chef der Regierung Israels zu werden, benutzte sein ewiger politischer Gegner - der linke Führer Shimon Peres - eine seiner so geliebten Metaphern: 'Er ist ein alter Tiger. Aber auch alte Tiger verlieren die Zähne.' Vielleicht dachte Peres, der General werde seine natürliche Neigung zum Muskelmessen irgendwann etwas mildern, aber sicher konnte er sich nicht vorstellen, was eines nicht so fernen Tages geschehen wäre: Dass der Patenonkel der Siedlungen und der Apostel des Groß-Israel - der mit der Idee gespielt hatte, die Palästinenser auf die andere Seite der Flusses Jordan zu verdrängen - es gewagt hätte, sich wie ein Tiger mit starken und gesunden Zähnen gegen seine eigene Vergangenheit aufzubäumen." (APA/dpa)