Wo sich die letzte Schlacht um Neve Dekalim zusammenzubrauen schien, war Donnerstagmittag plötzlich eine Art Happening im Gang. Auf dem Rasen vor der großen Synagoge hatten sich dutzende junge Mädchen in den orangen T-Shirts der Abzugsgegner aufgebaut, sangen mit Begeisterung religiöse Lieder, hüpften und schunkelten.

Die Aktivistinnen bildeten ein lebendes Bollwerk gegen die Massen von Soldaten und Polizisten, die in der Früh den ganzen Komplex umstellt hatten. Und es war ein Polizeioffizier, der in der Gluthitze an die Demonstranten Wasserflaschen verteilte.

Die größte jüdische Siedlung im Gazastreifen hatte sich schon am Mittwoch, dem ersten Tag der Zwangsräumung, überraschend schnell geleert. Von den ursprünglich 480 Familien, so hieß es, harrten noch 60 aus. Viele Häuser in Neve Dekalim zeigten Spuren von Verwüstung oder hastigem Aufbruch, und die Sicherheitskräfte gingen weiter von Tür zu Tür. Aber zu einem heiklen Problem hatte sich die Synagoge entwickelt. "Helden, Freunde, Freundinnen – lasst uns hier leben, überleben und beten", rief der Rabbiner aus dem Lautsprecher, und das schien zugleich eine Durchhalteparole für seine Schäfchen und eine Aufforderung an die Räumungstruppen zu sein.

"Wahnsinn stoppen"

Am Mittwoch hatte die Armeeführung einen regelrechten Sturm nicht riskieren wollen, die uniformierte Phalanx war bei Einbruch der Dunkelheit wieder abgezogen. Am Donnerstag gingen dann die Verhandlungen über eine einvernehmliche Lösung in die nächste Runde.

"Meine Hoffnung ist, dass die Soldaten ein jüdisches Herz haben", sagte Re'ut Grinwald. "Meine Hoffnung ist, dass sie sagen werden ,Wir sind nicht im Stande, diesen Befehl auszuführen‘, und dass sie diesen Wahnsinn stoppen." Das 18-jährige Mädchen gehört zu den "Illegalen", die gar nicht im Gazastreifen zuhause sind. Sie ist erst vor drei Tagen umständlich auf Schleichwegen aus Beth-El im Westjordanland hereingekommen, danach sind dann auch noch ihre beiden Brüder dazugestoßen. Wo essen sie seither? "Gott sorgt für alles", ist die lapidare Antwort.

Im Inneren der Synagoge legen ganze Berge von Rucksäcken Zeugnis für die große Zahl der jungen Rechtsaktivisten ab, die hier Unterschlupf gefunden haben. Die meisten sind noch blutjung, vielleicht gerade einmal 16 oder 17 Jahre alt. Einige von ihnen schlafen erschöpft auf dem Fußboden oder ruhen sich auf den Bänken aus. Zwei löffeln eine große Ananaskompottkonserve aus, in einem Karton liegen Toastbrot- und Keksvorräte.

Im Gebetsaal sind es gut 300 Männer und Burschen, die sich im Rhythmus der klagengen Gebetsmelodien schaukeln, die Frauenabteilung ist noch dichter vollgepackt, man singt in surrealistischer Fröhlichkeit. Immer wieder lugt man aus dem Fenster, um nachzusehen, ob sich bei den Truppen etwas bewegt hat.

Draußen verwickeln ein paar Mädchen die Soldaten in endlose Gespräche. Die Befehle, die ihr befolgt, sind gesetzwidrig, lautet das immer wieder kehrende Argument, das sie vorbringen, Befehlen kann nur Gott. "Die Frage ist, was wichtiger ist", antwortet der Soldat Janiv Kossowitzki, "der Glaube an Gott und die Tora oder an die Demokratie." Um 15.30 Uhr ist es dann die Stimme des Polizeikommandanten, die von der anderen Seite über den Lautsprecher zu hören ist: "Die Stunde der Räumung ist gekommen." Die Soldaten marschieren zügig die schmale Rampe zur Synagoge hinauf. Der Gesang der Mädchen geht in Geschrei über. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.8.2005)