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Auch Brasiliens Staatschef Lula da Silva steht vor einem politischen Scherbenhaufen: Nach Bestechungsskandalen ist vom einstigen Nimbus der "Lichtgestalt" nicht viel übrig.

Foto: EPA/Ana Nascimento

In Lateinamerika leben viele Menschen mit ausgestreckten Händen. In der ganzen Hemisphäre gewöhnen patriarchalische Regierungen den Bürgern an, in Empfang zu nehmen, was gerade zum Überleben reicht, anstatt sich an der Gesellschaft zu beteiligen. Überall in der Region schaffen Politiker, die der Schriftsteller Octavio Paz einmal als "menschenfreundliche Ungeheuer" bezeichnet hat, Kunden anstatt Bürger, Menschen, die etwas erwarten, anstatt es zu fordern.

Das demokratische Lateinamerika hinkt seitwärts, weil es nicht vorwärts laufen kann. Es gibt zu viele Eingangsschranken für die Armen, die Innovativen und für Personen ohne Zugang zu Krediten. Zu viele Mauern wurden errichtet - gegen soziale Mobilität, Wettbewerb und Fairness in Politik und Wirtschaft. Daher können die Lateinamerikaner, obwohl sie in einem demokratischeren Umfeld wählen können, nicht in einer globalisierten Welt konkurrieren.

Die Lebensstandards sinken, die Einkommen stagnieren, Hoffnungen werden gedämpft. Also gehen die Leute in Bolivien auf die Straße. Oder sie glauben den Versprechen des populistischen Präsidenten Hugo Chávez in Venezuela. Oder sie denken, wie in Mexiko, über eine Rückkehr zum Einparteiensystem nach. Oder sie sehnen sich danach, die ganzen Penner rauszuwerfen - ein Gefühl, das sich zurzeit in Brasilien breit zu machen scheint. Oder sie stimmen mit den Füßen ab, wie in Mexiko, wo jeder fünfte Mann zwischen 26 und 35 Jahren in die Vereinigten Staaten zieht.

Die Region ist demokratischer, zugleich aber auch von mehr Ungleichheit geprägt als vor zehn Jahren. Obwohl sie das Wahlrecht vereint, bleiben die Lateinamerikaner durch die Armut getrennt. Die Volkswirtschaften Lateinamerikas sind so organisiert, dass sich Vermögen in wenigen Händen konzentriert, dann jedoch nicht besteuert wird, sodass den Regierungen die Ressourcen entgehen, die sie für Investitionen in das Humankapital benötigen.

Wenige Regierungen im heutigen Lateinamerika haben sich dazu verpflichtet, diese Investitionen vorzunehmen. Stattdessen bekommen die Menschen Lateinamerikas in der demokratischen Ära eine Menge öffentlicher Baustellen - Brücken, Autobahnen und riesige Bauwerke -, die kurzfristige politische Unterstützung erzeugen sollen: das ideale Betätigungsfeld für Politiker, die Wähler kaufen wollen anstatt wirklich ihre Interessen zu vertreten.

Zur Stagnation verurteilt?

Diese verzerrten Prioritäten spiegeln eine simple Realität wider: Die Demokratie in Lateinamerika scheint nicht imstande zu sein, alte Seilschaften und deren traditionelle Absprachen zur Machtverteilung zu zerschlagen. Die alten Eliten bleiben bestehen, halten sich, eingeschlossen in ihren umzäunten Gemeinden, die Armen vom Leib und haben auch keinerlei Anreiz, ihnen mehr Macht zu geben, weil ein Überangebot an billigen Arbeitskräften ja für jene, die sie beschäftigen, nur von Vorteil ist.

Das bedeutet, dass weite Teile der Bevölkerung das Gymnasium nicht abschließen, keine Hochschule besuchen und keine Chance haben, zu selbstbestimmten Bürgern zu werden. Sie dienen weiterhin einem sozioökonomischen System, in dem persönliche Beziehungen mehr zählen als Qualifikationen und in denen Positionen aufgrund von Loyalität, und nicht aufgrund von Verdiensten verteilt werden. Türen öffnen sich nur für Leute mit dem richtigen Namen und den richtigen Kontakten, Verträge werden mit einem Augenzwinkern unterzeichnet und Staatsmonopole an Freunde verkauft, die daraufhin Multimilliardäre werden, wie etwa der Mexikaner Carlos Slim.

Trotz immer wieder aufflammender Unruhen und des Vormarschs populistischer Politiker steht Lateinamerika aber nicht am Rande eines ökonomischen Kollaps. Die Region bleibt im Großen und Ganzen stabil. Doch das reicht nicht aus, die Menschen zu befähigen, den Sprung von der Tortillafabrik zum Softwareunternehmen zu schaffen, eine breite Mittelschicht zu etablieren und so soziale Mobilität zu gewährleisten.

Die Demokratie funktioniert vielleicht gut genug im Hinblick auf freie Wahlen. Aber etwas anderes funktioniert ganz und gar nicht, und zwar bei sämtlichen Präsidenten, ob es der Populist Chávez in Venezuela, der konservative Fox in Mexiko oder der linksgerichtete Lula in Brasilien ist. Und da hängt mit einer historisch tief verwurzelten Realität zusammen:

Lateinamerikas gestörte Demokratie ist das Ergebnis eines politischen und wirtschaftlichen Verhaltensmusters, durch das Lateinamerika zur Stagnation verurteilt bleibt, unabhängig davon, wer regiert. Es geht zurück auf ein Muster von aufgeschobenen oder unvollständigen Strukturreformen und von Privatisierungen, die die Eliten begünstigen, den Verbrauchern jedoch schaden.

Dadurch wurde ein Modell aufrechterhalten, das mehr Wert legt auf die Ausbeutung von Rohstoffen als auf die (Aus-)Bildung der Menschen. Großzügige Ressourcen wie Öl sind ein Fluch für die Demokratie in Entwicklungsländern, denn wenn eine Regierung die von ihr benötigten Einnahmen durch den Ölverkauf decken kann, braucht sie keine Steuern einzuziehen. Und für Regierungen, die ihr Steueraufkommen nicht ausweiten müssen, besteht wenig Anreiz, auf die Bedürfnisse ihres Volkes einzugehen - schon gar nicht, wenn es sich um eine Regierung handelt, die auf Seilschaften statt auf Bürgerrechten beruht.

Das Schlimmste aber ist: Solche Regierungen - ob autoritär oder dem Namen nach demokratisch - machen ihre Bürger zu Almosenempfängern anstatt zu Beteiligten. Sie bringen Menschen hervor, die mit ausgestreckten Händen, und nicht mit erhobenen Häuptern leben. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.8.2005)