Die Senkung des Spitzensteuersatzes für Besserverdiener hat, objektiv gesehen, keine Priorität vor anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Sie wäre nur die Korrektur einer Politik, die man von einer Rechtsregierung nicht erwartet hätte: dass nämlich der obere Mittelstand, verantwortlich für ein Gutteil der wirtschaftlichen Dynamik, belastet und noch einmal belastet wird. Schwarz-Blau war schön für Industrielle und den öffentlichen Dienst. Die einen wurden massiv entlastet, die anderen nicht wirklich angetastet. Leitende Angestellte, Freiberufler, Selbstständige – also die klassische Klientel von konservativen Regierungen – sind klare steuerliche Verlierer dieser "Wende". Es fällt auch schon der ÖVP auf; Willi Molterer sprach im Standard -Interview die "Leistungsträger" an, die sich fragen, "Warum immer nur wir?".

Nach einer Berechnungsweise sind es 200.000, die unter den Spitzensteuersatz fallen, nach einer anderen 350.000 (Kann man sich einigen, was stimmt? Die zweite Zahl wäre schon eine eigene Parlamentspartei). Jedenfalls werden es jeden Tag mehr, wegen der inflationsbedingten "kalten Progression".

Dennoch: In der Prioritätenliste der Wirtschaftspolitik steht die Senkung des Spitzensteuersatzes nicht an vorderster Stelle (aber auch nicht ganz weit hinten). "Die Arbeitslosigkeit ist unser größtes Problem", sagte der Chef des Wifo, Karl Aiginger, ebenfalls im Standard-Interview. Für eine Regierung, die das Problem bisher vernachlässigt hat, keine erfreuliche Ansage. Noch Unerfreuliches, was Aiginger dann im weiteren Verlauf des Gespräches sagt: Die Hauptstrategie gegen die Arbeitslosigkeit sei "Innovation, Qualifikation, Weiterbildung, moderne Infrastruktur" – aber die Universitäten, die für die ersten drei Dinge verantwortlich seien, hätten "viel zu wenig Geld". Es wäre "an der Zeit, die Unis mit Geld auszustatten. Wir haben nicht genug Österreicher, die studieren."

Eine mächtigere Ohrfeige für diese Regierung, für die Bildungsministerin, die seit zehn Jahren amtiert, und für den Finanzminister, den das in seinem Jetset-Liebesrausch alles nicht interessiert, ist schwer denkbar.

Aber es geht nicht nur um die Universitäten. Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl berichtet vom verbreiteten Auftreten quasi-analphabetischer Lehrlinge. Ein Staat, der das zulässt, noch dazu mit einem relativ teuren Schulsystem, hat sie nicht mehr alle. Aus den Lehrlingen sollen einmal Facharbeiter werden, oder?

Vielleicht muss man die jetzige Regierung so bewerten: Ihre Prioritäten waren von Beginn an auf Reparatur ausgerichtet: Pensionssystem repapieren, Budget reparieren – alles wichtig; manches gelungen, manches nicht. Aber so notwendig es gewesen sein mag, es war rückwärtsgerichtet, eine Korrektur der verhassten großen Koalition/Sozialpartnerschaft ("Ich war gegen die Koalition mit der FPÖ", sagt heute ein Wirtschaftspolitiker der ÖVP, "aber auch bei mir war das Aha-Erlebnis, wo ich gesagt habe, mit Betontypen wie dem Nürnberger geht es nicht mehr").

Inzwischen haben sich aber die Paradigmen geändert. Die Globalisierung zieht uns den Teppich unter den Füßen weg. Die Sanierung des Pensionssystem hilft nichts, wenn unsere relativ einfach strukturierte Produktion und damit Arbeitsplätze in die "neuen Länder" abwandern. Das Nulldefizit, ohnehin eine Scharlatanerie, ist wertlos, wenn die Mittel für ein massives geistiges Upgrading des gesamten Bildungs- und Forschungswesens fehlen. Das sind die falschen Prioritäten. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.8.2005)