Christoph Coburger plädiert für schlankes, multimediales Theater - gegen Sitzriesen.

Foto: ensemble für städtebewohner/coburger
Wien/Berlin - Die im besten Sinne nervenzerkratzende Qualität von Christoph Coburgers musikalischen Interventionen hat einige der künstlerisch hochwertigsten Sprechtheaterleistungen im abgelaufenen Jahrzehnt - nicht begleitet, sondern eigentlich erst mit hervorgebracht. Coburger, ein eher zurückhaltender Mittvierziger, der komponiert, indem er "durchaus Noten schreibt" ("Dann stopf ich die Sachen aber in ein hoch auflösliches Computerprogramm!"), arbeitete als Soundtrackkomponist bevorzugt für Regisseur Gerhard Willert.

Willert, der heute als Schauspieldirektor am Linzer Landestheater amtiert, gewann - damals noch in Hans Gratzers Wiener Schauspielhaus, später am Schauspiel Mannheim - neuen Stücken mit Coburgers Hilfe eine zusätzliche Ebene ab: Indem er die ihm anvertrauten Figuren beim Wort nahm, glaubte er noch lange nicht an die Wahrheit ihrer verbürgten Satzaussagen.

Die Subtexte und Wesenskerne hinter den verlogenen Selbstauskünften wurden aus den bürgerlichen Anstandsdeckungen herausgekratzt: mit elektronisch generierten Geräuschen, die an Kratzbürsteneinsätze denken lassen.

Schmähliche Wahrheiten werden von Coburger aus dem Dickicht der bürgerlichen Selbstbeschwichtigung hervorgezerrt. Wer den Mund aufmacht, wird der Lüge überführt! Kerne werden herauspräpariert, die noch nie ein Mensch gesehen/gehört hat. Die psychoanalytischen Verfahrensweisen Freuds und Lacans scheinen in packende, palavernde Gegenwartsmusik übersetzt.

Die Verehrerin von Ibsens Baumeister Solness in Willerts Mannheimer, zum Berliner Theatertreffen eingeladener Inszenierung? War ein uneingestandenes Vergewaltigungsopfer. Die Wohlstandstäter in den Familienpassionsspielen Martin Crimps? Waren Begehrende mit uneingestandenen Sehnsüchten. Bis zu einem gewissen Grad wissen Coburger-Hörer immer mehr, als es sich der gemeine Reclam-Leser träumen lässt.

Coburger, der in Berlin lebt und die Vorzüge globaler Vernetzungsarchitektur für sich in Anspruch nimmt, besitzt heute ein Modul - "Ja, das würd ich so nennen!" - mehr oder minder fest mit ihm verabredeter Künstler.

Kunst-Biwak in Wien

Unter dem epischen Titel ensemble für städtebewohner hat er jetzt ein Produktionsbiwak in Wien aufgeschlagen: Frucht der von der Theaterreform angebahnten Wiederaufforstungsbemühungen. Eine vierjährige Konzeptförderung, die sich heuer mit rund 275.000 Euro niederschlägt, stellt 2005/06 eine unruhige Produktionstätigkeit an der Schnittstelle von Geräuscherzeugung und Theaterbetrachtung vorderhand sicher.
Stadttheater sind Coburger eher zum Gräuel geworden - auch wenn er an der Verabredung mit Willert festhält ("Wir stoßen in Linz natürlich an Mauern!"): Die nächsten Arbeiten in Wien beschäftigen sich mit "stummem Theater" (Herr K und Frau N nach einem Text des russischen Avantgardisten Alexandr Vvedenskij, zu sehen im Oktober im dietheater Künstlerhaus) - eingespielte und Live-Geräusche wetteifern miteinander um den - im mehrfachen Wortsinne - "verhinderten Akt".
Ein anderes Projekt wird sich "mit dem Körper der Telefonistin als Schnittstelle zwischen menschlicher Stimme und Maschinenschrank beschäftigen und die Schönheit menschlichen Versagens gegen die Perfektion der automatischen Vermittlung feiern". Alles an automatischer Vermittlung ist Coburger ein Unding: "Wir wollen als Gruppe hier in Wien gerne einen beweglichen Container aufstellen - aber das ist vor dieser Kulisse furchtbar schwer. Allein schon, wenn du ein Logo hast: Jeder Kommerzbetreiber besitzt doch heute ein Logo!"

Die kulturgenussfähigen Informationsströme beweglich halten: das Hauptproblem für einen quecksilbrigen Geist, der Partituren für Gitarre, Bass und Schlagzeug gerne auf Notenpapier niederschreibt. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.08.2005)